Himmel noch mal. Wie stets, tauchte sie auch jetzt ein in das Leuchten dieser braunen Augen, die er, genau wie die blonde Haarfarbe, von seiner Mutter aus Südtirol geerbt hatte, wie sie wusste.
»Da kann Linni doch mitgehen.« In Lucas Stimme schwang Begeisterung.
Atemlos wartete sie auf Elias’ Reaktion. Doch die Antwort kam postwendend. »Nein, Luca. Linni hat genug zu tun.«
»Ja, aber da kann sie doch trotzdem mit uns …«
»Lass mal, Schatz. Dein Papa hat Recht. Du musst ihm wirklich helfen, dass er das Richtige kauft. Ich möchte mich auch noch mit meiner Freundin treffen«, unterbrach Linni ihn rasch. Sie wusste ja, dass der Samstag und der Sonntag die »heiligen« Tage für Elias waren, an denen er mit Luca allein sein wollte, da er in der Woche so wenig Zeit für ihn hatte.
»Dann wünsch’ ich euch noch ein schönes Wochenende.« Sie zögerte eine Sekunde, doch von Elias kam kein weiteres Wort. Schade. Letzten Freitag hatte er sie für den Abend auf ein Glas Wein mit Käse in seine Wohnung eingeladen, und sie war darüber so aufgeregt gewesen, dass sie sich komplett neu eingekleidet hatte – einschließlich sündhaft teurer Unterwäsche, die sie sich normalerweise nie geleistet hätte, deren Geld eigentlich für die Urlaubskasse bestimmt gewesen war. Wie sich herausstellte, war der Kauf der Unterwäsche eine verfrühte, in diesem Augenblick jedoch notwendige Maßnahme gewesen, schließlich wollte sie auf alles vorbereitet sein.
Es begann mit normalem Small-Talk und dann war er sehr rasch dazu übergegangen, nur über Luca zu schwatzen und Elias’ Sorge darüber, dass Luca in der Schule gemobbt wurde. »Es gibt da einen Jungen, der hat schon einmal die Klasse wiederholen müssen. Er ist bereits zehn Jahre alt und ich bin tatsächlich in Sorge«, hatte er Linni mitgeteilt. Fredie war im Gegensatz zu Luca erst spät eingeschult worden. Hinzu kam, dass der Schulkamerad Luca körperlich anscheinend überlegen war. »Was Luca wohl imponiert«, hatte er geseufzt. »Als gute Freundin wäre mir deine Meinung wichtig. Mir fällt dazu nichts ein«, war die Unterhaltung schließlich beendet worden. »Ich würde dem Knaben ja eins auf die Mütze geben, aber da ich Luca immer predige, dass man sich nur mit Worten wehren soll, konnte ich damit natürlich nicht kommen.«
»Ich bin absolut deiner Meinung. Gewalt ist so ziemlich der letzte Lösungsansatz von Konflikten«, hatte sie nickend bestätigt.
Nach zwei Stunden, als ihr wirklich nichts mehr eingefallen war, worüber sie noch sprechen könnten, und seine Blicke auf die Uhr wirklich nicht mehr zu ignorieren waren, war sie um eine Verabschiedung nicht mehr herum gekommen. Und wenn sie ehrlich war, hatte der Abend nicht das gebracht, was sie sich erhofft hatte – die Äußerung seines Wunsches, sie öfter nach der Arbeit zu sehen, oder gar ein Abschiedskuss. Nicht, dass er unfreundlich war, nein, auch jetzt blickten seine Augen liebevoll auf sie herunter. Lag in ihnen nicht doch versteckt ein Wunsch, sie in den Arm zu nehmen? Was er sich sonst im Beisein von Luca versagte? Er gehörte ohnehin zu den etwas in sich gekehrten Menschen – was seine Arbeit in der Werkstatt bewies, in der er mutterseelenallein, tagein, tagaus, vor sich hinwerkelte, begleitet nur von Luca und dessen wissbegierigen Fragen.
Wie oft sie alle Szenarien durchgespielt hatte – in Gedanken. So wie jetzt, als sie seine Hand auf ihrer Schulter fühlte.
Wenn das kein Zeichen war, dann wusste sie auch nicht. Schließlich war er kein Typ, der andere sofort umarmte oder den körperlichen Kontakt suchte. Aber nein, heute gab es keine andere Erklärung dafür, als dass er sie einfach nur rasch loswerden wollte, aus welchem Grund auch immer. Das erkannte sie, als er sie sanft zur Tür schob. Trotzdem: Sein liebevoller Blick, als er sich von ihr verabschiedete, sprach doch eigentlich Bände, oder nicht? Na also. Da gab man doch auch nach vier Jahren nicht die Hoffnung auf.
Tief in Gedanken versunken stieg sie langsam wieder die ausgetretenen Eichenstufen hinab und trat, nachdem sie sich eine leichte Jacke angezogen hatte, hinaus in die herrliche Frühlingsluft.
Für heute Mittag hatte sie einen einfachen Bauerneintopf mit Rindfleisch vorgesehen, die Leibspeise ihres Vaters. Darin gab es neben dem Rindfleisch vom Biobauern sämtliche Gemüse, die noch von der Woche übriggeblieben waren: Karotten, Petersilienwurzel, Kohlrabi, Bohnen, Tomaten und Erbsen. Rasch Zwiebel anrösten, Kartoffeln und das blättrig geschnittene Gemüse mit Salz, Pfeffer und Lorbeerblatt dazu und in einer Stunde langsam alles weich dünsten. Fertig. Außer dem Fleisch hatte sie alles da.
Nach wenigen Minuten erreichte sie den alten Bogendurchgang und gelangte in die pittoreske Passeirergasse, die geradewegs Richtung Palais Mamming, Museum und Domplatz führt. An den Wänden erkannte man noch die Relikte alter Handwerker-Beschriftungen. Das große Street-Art-Gemälde neueren Datums, das mehrere Meter einer Mauer einnahm, ignorierte Linni, wie immer. Für sie war diese Fantasie-Welt nicht raffiniert, sondern schlichte Schmiererei, diese jedoch keineswegs illegal, wie sie anfangs angenommen hatte, sondern scheinbar Kunst, wie Ella ihr weismachen wollte. Aber sie war halt altmodisch, im Gegensatz zu Ella, die Kunst interessierte. Das störte sie nicht, sie war sich schließlich dessen ebenfalls bewusst.
Sie erstand ihr Fleisch, dann bummelte sie weiter zur Hallergasse, der zweiten Hauptgasse des Viertels, von der die kleine Steinachgasse Richtung Passer abzweigte. Große Steinquader, die so genannten Ritschen, überdeckten den darunter gelegenen Bach Steinach, nach dem das Viertel benannt war.
Als sie auf ihrem kleinen Rundgang ihre Freundin Eva traf, kehrten sie rasch ins ehemalige »Henkerhaus« ein, in dem einst Merans Henker ihren Wohnsitz hatten, das heute jedoch ein beliebtes Lokal beherbergte.
2
Ella
Währenddessen arbeitete Ella in ihrer Werkstatt. Die hochzufriedene Kundin mit der lila Tasche hatte soeben den Laden verlassen. Deren Verhalten war ihr jedoch sehr seltsam vorgekommen. Bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche war die Dame hereingekommen, ein wenig scheu vielleicht, doch sie wurde vom Gefühl begleitet, dass sie im Grunde alles andere als das war. Sie sah gepflegt aus, hatte blondiertes Haar, das sie kurz geschnitten trug, war leicht geschminkt, attraktiv. Mitte fünfzig, war Ellas Einschätzung gewesen. Auf das Klingeln der Türglocke war sie in den Laden gegangen, wo die Kundin sich bereits neugierig umgeschaut hatte. Bei Ellas Anblick schwankte sie plötzlich und musste sich an der Verkaufstheke festhalten, sonst wäre sie wahrscheinlich umgekippt, war Ellas Mutmaßung gewesen.
»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?«, war ihre erschrockene Frage gewesen. Die Dame hatte abgelehnt. »Aber bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.« Mit diesen Worten hatte Ella mit der Hand auf den Sessel in der Ecke vor dem Schaufenster gewiesen, doch auch das war von der Frau dankend abgelehnt worden.
Auch heute war Ella wieder durch die Dame verunsichert worden. Ganz intensiv hatte die Frau ihre Hände und ihr Gesicht studiert, sodass sich Ella beim Einpacken der Tasche in Geschenkpapier – von der Dame erbeten – ungeschickter angestellt hatte als sonst. Zum Schluss erbat sich die Kundin eine Visitenkarte, falls ihre Freundinnen ebenfalls so viel Freude an den außerordentlichen Taschen und Geschenken zeigen würden.
»Ich danke Ihnen vielmals, es war mir eine besondere Freude und ich bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden.«
»Sehr gern«, erwiderte Ella mit ihrem aufgesetzten Kundenlächeln.
Linni kam mit solchen Frauen viel besser zurecht. Ihr schien der Charme angeboren. Ella musste sich immer dazu zwingen, wildfremden Menschen stets gleichbleibend freundlich gegenüberzutreten, selbst wenn ihr Liebesleben mal wieder darniederlag oder Kunden sie während einer besonders kniffligen Arbeit störten. Oder – im schlimmsten Fall – eines ihrer Taschen-Kunstwerke schlussendlich doch nicht deren Vorstellungen entsprach. Doch mittlerweile hatte sie gelernt, ihre Körpersprache und Mimik unter Kontrolle zu halten. Sie war ja auf die Kunden angewiesen. Und manchmal machte es ihr sogar Spaß, die Freundliche zu spielen, ohne dass es das Gegenüber mitbekam.
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