Schon öffnete sich die Tür und Brigitte und Christian betraten die Küche.
»Hallo, guten Morgen«, begrüßte Linni die beiden.
Seit sich die Nachbarin mit den lustigen Grübchen auf den Wangen, die trotz ihrer Rundlichkeit sehr wendig ihre Arbeiten verrichtete, um ihren Vater kümmerte, hatte man die beiden noch nie mit schlechter Laune erlebt. Und so erfreute auch heute Morgen Linnis Herz das Glück, das in den Gesichtern der beiden leuchtete, linderten sie doch einander die Einsamkeit. Auch Brigitte war Witwe, bereits seit vielen Jahren. Ihr Sohn, Tommaso, lebte schon seit zwanzig Jahren nicht mehr im Nachbarhaus. Er war als Brückenbauer in die weite Welt gezogen, doch schien sein Wanderleben wohl demnächst ein Ende zu haben, wie Brigitte glücklich verkündet hatte.
Linni musste lächeln, wenn sie an ihn dachte. Bevor sie Elias verfallen war, gehörte ihr Herz dem sieben Jahre älteren Tommaso – was dieser natürlich hoffentlich nie erfahren hatte. Sie war niemals etwas anderes als die niedliche Kleine von nebenan gewesen. Dass er derjenige gewesen war, den sie bereits als Vierjährige zum Heiraten auserkoren hatte, war seit damals tief in ihrem Herzen verschlossen.
Bis Elias kam, der alles veränderte.
Ihr Vater hielt Brigitte höflich die Tür auf und betrat dann mit vorsichtigen Schritten die Küche. Sein volles, schwarzes Haar, das langsam an den Schläfen ergraute, mit den schönen Wellen, das er ein wenig länger als die meisten trug, hatte er Linni vererbt. Ebenso seine braunen Augen, die vollen Lippen und die mollige Statur.
»Guten Morgen, Linni. Mein Gott, Kind, du strahlst ja wieder wie der junge Morgen.«
Linni erwiderte Brigittes herzliches Lächeln. Brigitte trug heute ausnahmsweise eine Jeans und ein T-Shirt in knallbunten Farben. Dazu Turnschuhe. Eine Ausnahme, weil sie heute im Garten arbeiten würde. Normalerweise sah man sie stets in farbenfrohen Kleidern, Röcken und Blusen. Beige, Grau und Schwarz fehlten in ihrem Kleiderschrank. An ihre nahezu faltenfreie Haut kam nur Allzweckcreme im Sommer und eine reichhaltigere Creme im Winter, sonst bloß Wasser und Seife.
»Guten Morgen, ihr beiden, und danke für das Kompliment. Ich hatte nur gerade an etwas Nettes gedacht«, gab sie mit einem Lächeln zurück. Dass der Grund ihres Lächelns Tommaso war, behielt sie für sich.
»Hm, wie gut das Brot wieder duftet, das du gestern gebacken hast«, seufzte Brigitte, die keinen Hehl aus ihrem Genuss am Essen machte, worin sie perfekt zu Christian passte.
»Das ist ein ganz neues Rezept. Ich hoffe, es schmeckt.«
Sie trat zu ihrem Vater und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Na, Papa? Hast du gut geschlafen?«
»Wie ein Stein. Kein Wunder, nachdem mich Brigitte gestern mit ihrem Rotwein außer Gefecht gesetzt hat.«
»Oha, so schlimm war’s doch gar nicht, du übertreibst«, lachte Brigitte. Sie selbst liebte Wein, trank aber nicht gern allein – und gab sich daher alle Mühe, Christian, den passionierten Biertrinker, zum Mittrinken zu animieren. Ausgerechnet ihn, der Weine nur in die Kategorie weiß-rot, süß-sauer und einigermaßen mundend oder nicht trinkbar einteilte.
Sie setzten sich und gleich darauf wurde die Tür von Ella aufgerissen.
»Servus, miteinander«, murmelte sie schlaftrunken, zog die Tür laut hinter sich zu und ließ sich auf den Stuhl am großen Esstisch fallen.
»Hast du wieder bis tief in die Nacht gearbeitet?«, erkundigte sich Christian in seiner seit seinem leichten Schlaganfall bedächtigen Sprechweise.
Ella fuhr sich durch die kurz geschnittenen, blonden Haare und rieb sich die topasfarbenen Augen. »Ja, ich bin wirklich noch hundemüde. Aber ich wollte unbedingt eine Tasche fertigmachen. Die Kundin will heute Morgen noch vorbeischauen und sie mitnehmen. An sich eine schicke Tasche, wenn sie nicht auf diesem Lila bestanden hätte. Aber der Kunde ist König, gell Papa?«, sagte sie mit einem Seufzen. »Übrigens, sie bat mich, eines von deinen Kunstwerken am Griff anzubringen«, wandte sie sich an Linni.
Linni wunderte sich zum hundertsten Mal, dass man ihrer Schwester niemals ansah, ob sie gut oder schlecht oder nur wenige Stunden geschlafen hatte. Sie sah immer aus wie ein Engel. Eine Schönheit, auf die die Männer flogen – wenn auch stets die falschen und lediglich für kurze Zeit.
Linni betrachtete ihre Schwester zärtlich. Sie war sich längst klar darüber, dass Ella die Hübschere war – Neid hatte es wirklich nur selten zwischen ihnen gegeben. Das Einzige, worüber sie früher manchmal gestolpert war: ihre Figur, weiblich, wie ihre Mutter immer wieder betont hatte. Die Wörter mollig oder gar dick fielen nie in ihrer Familie, ohnehin war das Thema Figur bei ihnen ohne Bedeutung. Mittlerweile hatte sie sich mit ihrer weiblichen Figur versöhnt, und dass Ella essen konnte, wie sie wollte, ohne zuzunehmen, nahm sie hin wie die Tatsache, dass es große und kleine Menschen gab. Sie liebten sich, so einfach war das.
Dass Ella als Neugeborenes adoptiert worden war, spielte dabei keine Rolle. Sie war zwei Jahre älter als Linni und empfand sich von jeher als Aufpasserin – der einzige Grund zu gelegentlichen Streitigkeiten zwischen ihnen.
»Ach ja? Ein Stück von mir? Welches denn?«, erkundigte Linni sich erfreut. Seit einigen Jahren fertigte sie neben ihrer Arbeit in der Sattlerei fragile Schmuckgebilde aus Federn, wie Ohrhänger, Ketten und Broschen aller Art an. Schon früh hatte sie sich in die kunterbunten Federn verliebt und irgendwann angefangen, sie zu sammeln. In der Sattlerei ihres Vaters hatte sie wie Ella den Beruf der Sattler- und Täschnerin erlernt. Doch im Gegensatz zu Ella bereitete ihr die filigranere Arbeit als Schmuckherstellerin mehr Freude, und so hatte sie nach eineinhalb Jahren Lehrzeit bei einem Goldschmied ihr Hobby zum Beruf gemacht, und sich darauf spezialisiert, Schmuck herzustellen. Diese »Lehre« war in den Abendstunden und am Wochenende ausgeübt worden, und natürlich hatte sie in dieser Zeit nichts verdient. Sie war Anton Maier, mit dem sie mittlerweile eine tiefe Freundschaft verband, sehr dankbar, dass sie bei ihm die wichtigsten Schritte für die Modeschmuckherstellung lernen durfte. Und sie suchte ihn noch heute auf, wenn sie eine neue knifflige Arbeit in Angriff nehmen wollte. Noch arbeitete sie mit in der Sattlerei, doch bald musste Ella möglicherweise jemanden zusätzlich einstellen, wenn Ricardo nächstes Jahr in Rente ging. Wenn sie auch noch nicht allein von ihrem Hobby leben konnte, so standen dank der Touristen und ihrer eigenen Webseite die Aussichten auf eine größere Auftragslage gut.
»Einen von deinen Silberohrringen mit diesen bräunlich-schwarzen Jagdfasanfedern. Ich konnte sie allerdings davon überzeugen, dass du die nur im Paar abgeben würdest.«
»Da zeigt sich wieder, dass du nicht nur eine gute Handwerkerin bist, sondern auch eine famose Geschäftsfrau«, erklärte Brigitte mit Bewunderung in der Stimme.
»Und nicht nur das. Ich hab’ ihr außerdem deine Karte mitgegeben. Eine ihrer Bekannten bewirtschaftet einen Hof, auf dem sie unter anderem Perlhühner halten. Ich hab’ sie gebeten, bei Gelegenheit einige Federn mitzubringen und sie versprach, es nicht zu vergessen.«
»Oh, das ist wirklich lieb von dir. Ich werde sowieso im Internet neue Federn bestellen müssen.«
»Himmel, du erstickst doch in dem Gefieder«, seufzte Ella übertrieben. »Stell mir bloß nicht noch einen Schrank in die Werkstatt«, bat sie ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst immer auf der Suche nach besonders schönen Federn war, die sie dann ihrer Schwester zum Geschenk machte.
»Keine Sorge«, gab Linni lachend zur Antwort. »Ich werde den nächsten Schrank auf einen alten draufstellen.«
Linni dachte daran, dass es im Internet wirklich alles gab, nicht nur ihre Schränke mit den zahlreichen Schubläden für Zeichnungen, in denen sie ihre Federn und Schmuckstücke unterbringen konnte. So gab es auch einen Versand für Federn, bei dem ihr das Herz aufging und kein Wunsch nach außergewöhnlichen »Schätzchen« unerfüllt blieb, seien es Marabufedern, Hahnen- und Putenfedern, gepunktete Perlhuhnfedern, Straußen- und Pfauenfedern. Selbst Federn von ihr unbekannten Kirchenfensterfasanen waren im Angebot. Längst nahmen ihre Schränke die gesamte Breite der Werkstatt zum Hof in Anspruch, wo sie ihre Werkbank aufgebaut hatte.
Читать дальше