Ingeborg Arvola - Am Ende der Sehnsucht

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In diesem Roman geht es um das Heranwachsen eines jungen Mädchens zu einer jungen Frau. Von einer Pflegemutter aufgezogen, sehnt sich das Mädchen nach seiner leiblichen Mutter, die für kurze Zeit immer wieder in ihrem Leben auftaucht. Auf dieser Suche, die gleichzeitig auch zu ihrem Prozess der Selbstfindung wird, wird sie von verschiedenen Familienmitgliedern und ihrer ersten großen Liebe begleitet. -

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Ingeborg Arvola

Am Ende der Sehnsucht

Saga egmont

Am Ende der Sehnsucht

Aus dem Norwegischem von Sigrid Engeler nach

Korellhuset

Copyright © 2002, 2017 Ingeborg Arvola og Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711449912

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.comund Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Für meine Mutter

Wenn ich um die Bäume herumgehe, sehe ich die Hütte. Beim Wiedererkennen sträuben sich mir die Haare, und bestimmt glänzen meine Augen ein bißchen, ich hatte nicht geglaubt, daß die Erinnerung so genau sein würde. Am äußersten Ende der Wiese liegt sie, klein und rotgestrichen. Einmal, vor langer Zeit, saß ich vor dem Haus auf der Treppe und glaubte, das Holz aus dem Pasvikelv würde mir Geheimnisse zuflüstern, wollte mir etwas erzählen, das ich nicht verstand.

Der Fluß Neiden redet immer noch, erzählt über all die Jahre hin mit gleichmäßiger Stimme, und ich sehe das kleine Mädchen, in Kleidern, die ihm nicht paßten. Es sitzt da, den Rücken ein bißchen gekrümmt, und lauscht. Eine schmutzige Wange. Ein Stück vom Schal im Mund.

Ich bin zurückgekommen. Bin in zufälligen Kleidern aus der Zeit gesprungen und ließ übereilt einen Zettel zurück mit einigen Flüchtigkeitsfehlern. Immer noch außer Atem, steige ich bei Bordevarra aus dem Bus. Bin überhaupt nicht sicher, ob das richtig war. Unsicherer Blick den Straßenrand entlang. Bin ich hier früher schon gewesen? Mit Herzklopfen bis zum Hals über den Weg. Heide, Heideduft. Atme tief ein. Gehe schnell von den Bäumen weg, ganz erwachsen, auf dem Weg über die Wiese. Öffne das Gesicht zur Hütte in Uopaja. Ich bin es, die hier ist. Ich bin früher schon hier gewesen. Mit meinem Vater. Mit meinem Vater , wiederhole ich. Das ist, als öffnete man während eines Unwetters alle Fenster. Erinnerungsbilder rasen durch den Kopf .

Als ich meinem Vater zum ersten Mal begegnete, kam er von Uopaja. Er und ein paar Nachbarn hatten die Hütte zurückgetragen. Das Hochwasser hatte sie mit sich über Edas Land geschleppt, und sie stand gleich neben dem alten Heuschuppen. Noch nicht einmal Hütten bleiben dort, wo sie abgestellt worden sind, dachte ich vielleicht damals. Und mein Vater war derjenige, der sich um die Hütten kümmerte. Er lief mit Lasso und Gummistiefeln hinter ihnen her und vielleicht mit einer Spielzeugpistole. Und dem dunklen Hut, grau, mit Flecken von der Erde und einem gelb-schwarzen Angelhaken. Ich hatte den Hut ganz vergessen. Er bat sie, mit zurückzubleiben, er fand sie, wenn sie sich verirrt hatten. Wenn sie verstört im Schatten des Heuschuppens saßen, grauverwittert, schief, mehrere hundert Meter von ihren eigenen Grundstücken entfernt, und waren sie verschreckt, tröstete er sie mit kraftvoller Hand.

Er kam mir in schmutzigen Kleidern auf der Straße entgegen, roch nach Fisch und Wacholder, jemand, den ich nicht kannte. Und ich unterdrückte einen Schluchzer, um ihn näher in Augenschein zu nehmen, den Mann, der mein Vater war, ohne daß es einer von uns wußte. Der Mann, der Hütten nach Hause trägt, dachte ich, ehe ich an seiner Seite einschlief, zum ersten Mal in der Finnmark.

Die Hütte liegt so scheu und alltäglich da, daß es mich schaudert. Es ist noch nicht lange her, seit hier jemand Heu geerntet hat, ein Teil der Erde liegt nach dem Schnitt noch bloß. Meine Mutter ist nie hier gewesen, denke ich. An diesem Ort hat mein Vater auf seine eigene Weise geherrscht. Gejagt von Dämonen, beschützt von Engeln. Hier hat er mir den Geschmack des Grases geschenkt und Fischblut in meine Adern gepumpt. Jetzt, wo ich wieder hier bin, recke ich den Hals, sehe Blaues glitzern. Glaube, ich kann die Toten flüchtig sehen, die sich am Rand der Wiese um ihn gesammelt haben. Für ihn wurde meine Mutter nicht einmal zu einem Trugbild, einer Illusion. Sie hat mit diesem Ort nichts zu tun. Gerade als ich mich von den Unsichtbaren abwenden will, kommt es mir vor, als sähe ich ein Lächeln aufglitzern, viele Lächeln, ganz kurz, wie das Wasser des Flusses zwischen den Birkenstämmen. Ist das mein Vater, der zufrieden in die Luft lächelt, weil ich zurückgekommen bin? Komisch. Heißt er mich willkommen? Ich blicke auf die Treppenstufen hinunter, überwältigt von der eigenen Verwunderung. In all diesen Jahren hatte ich geglaubt, ich würde Furcht mit diesem Ort verbinden .

Erster Teil

Ämmi

1

Es war einmal eine Mutter. Sie war meine Mutter, die Frau, die alle Korell nannten, und ich weiß noch immer nicht, warum. Immer ist es ihr Name, um den meine Gedanken kreisen. Korell, die am Küchenschrank steht, während ihre Finger routiniert Saft mischen, Wasser, Zucker und Zitrone. Sie braucht bei der Arbeit gar nicht anwesend zu sein, ihr Blick ist ganz woanders. Meine Mutter hat große Augen, wunderbar klar brennen sie in dem Gesicht. Wir sind in der Küche, und ich trinke genüßlich Saft. Niemand außer Korell würde mir Saft geben, das Glas halbvoll Zucker. Schon gar nicht bei diesem schweren Regenwetter, einem Wetter voller Vorwarnungen, Kummer und Abschieden. Davon läßt sich meine Mutter, die mich liebevoll anschaut, den Abstand der ganzen Welt im Blick, nicht stören, und ich trinke in winzigen Schlucken, trinke für den Rest meines Lebens; und während sich der Name Korell in den süßen Geschmack mischt, bleiben die Tropfen der Zitrone verzerrt und zerlaufen auf dem Küchenschrank. Korell ist so, Gestalten können verzerrt sein vor Einsamkeit, in der sie andere zurücklassen, in der sie selbst gefangen sind. Korell ist diejenige, die weiterzieht.

Alle nennen Korell bei ihrem Namen, auch ich tue das. Nur innen in mir ist sie Mama, eine weitaus greifbarere Gestalt als Korell, die mich genau jetzt bei halbgeöffnetem Fenster und Regenwetter genießt. Korell, schlucke ich und spüre, wie die Lippen vom Zucker kleben. Ich habe eine Million Fragen, die nach Antworten verlangen, und alle Sehnsucht der Welt, um das richtige Wort, den richtigen Tonfall zu treffen, damit Korell bleibt, auch wenn das Wetter von Abschied spricht. Halbwegs unten im Glas zögere ich, benutze den kleinen Löffel, um mir den Zuckerhügel, von Zitrone durchsäuert, zu sichern.

»Warum heißt du Korell?« frage ich.

Immer diese Frage, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, ob sie irgendwann einmal darauf geantwortet hat. Und der magische Saft verliert seine Wirkung. Korell mag keine alltäglichen Fragen. Meine Mutter wird sich erst zeigen, wenn das rechte Wort aus meinem Mund fällt, wie rostige Ketten von alten Seeräuberkisten abfallen und eine Menge Gold enthüllen. Korell sagt, Zitrone macht den Zucker ungefährlich, entfernt das Ungesunde aus den weißen zähflüssigen Körnern, die den Boden des Saftglases bedecken, und auch wenn ich weiß, daß sie mich beschummelt, bringt mich das zum Lächeln, wie eine Verschwörerin. So sind sie, Korell und Mama, sie lieben Überraschungen, Ideen. Ich weiß das wohl, und ich beeile mich mit dem Saft, während ich spüre, wie sich Rastlosigkeit zwischen uns breitmacht, und ich will nicht diejenige sein, die aufhält. Weiß das wohl, habe aber nie Zeit genug für diese Wörter, gehe beständig verloren in einem Wirbel zu großer Ringe mit merkwürdigen Formen und einer Korell, die mich schwindeln macht, wenn sie mich auf ihre extreme Art umarmt. Jedes Mal, wenn sie kommt, beschließe ich, mich dieses Mal nicht berauschen zu lassen, lausche aber hellwach auf diese stummen Wörter und schüttele das richtige aus dem Ärmel, wenn es an der Zeit ist. Das Wort, bei dem sie bleibt. Einmal kam dieses Wort doch zu mir, aber jetzt kann ich mich nicht erinnern, welches es war. Ich erinnere mich nur, daß Korell den Kopf zurückwarf und laut lachte. Und statt alleine durch die Flurtür zu verschwinden, wickelte sie mich in Kleider ein und nahm mich mit hinaus in den dunkelnden Abend. Sie tanzte mit mir, nur mit mir, die ganze Nacht, und als ich mich wieder umsah, war es Morgen, und wir schlichen müde heimwärts.

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