Nina Sahl
Piv steht in dem leeren Wohnzimmer und schaut sich noch ein allerletztes Mal um. Sie sieht ihre Mutter an, die wie immer mit Mille auf dem Arm durch das Zimmer geht, obwohl Mille schon viel zu groß ist, um noch von ihr getragen zu werden. Sie sieht zu ihrem Vater, der die beleidigte Lina an die Hand genommen hat, genauso wie damals, als Piv und Lina noch kleiner waren.
„Tja, dann heißt es wohl Abschied nehmen“, stellt ihr Vater leise fest. Mama streckt ihre Hand aus und greift nach Pivs. Sie rückt Mille auf ihrem Arm zurecht und verlässt mit ihren beiden Töchtern das Wohnzimmer, verlässt den Korridor, verlässt das Haus.
Draußen wirft Piv einen letzten Blick auf ihr Zuhause, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat, seit sie vor zwölf Jahren das Licht der Welt erblickte. Mit einem Seufzen folgt sie ihrer Mutter und setzt sich in den Wagen.
In ihrem neuen Zuhause warten bereits Pivs Großmütter und ihr Opa mit Kaffee, Tee und süßen Brötchen. Die Umzugshelfer tragen diverse Kisten und Kartons ins Haus, während Vater und Opa die Kartons und kleinere Gegenstände auf die richtigen Zimmer verteilen.
„Milles Sachen müssen wir zuerst auspacken“, meint Pivs Vater. „Damit sie nicht, wenn sie morgen früh aufwacht, Angst bekommt, weil sie nicht weiß, wo sie ist.“
Diese Aufgabe übernehmen Mama und Oma, während alle anderen werkeln und einräumen und sich immerzu gegenseitig im Weg stehen.
Piv könnte beim Auspacken auch etwas Hilfe gebrauchen, doch allem Anschein nach muss sie sich noch etwas gedulden. Immerhin gibt es in ihrem Zimmer noch keine Regale, in die sie ihre Sachen stellen könnte. Aber wenn ihr gleich jemand ihr Bettchen aufbaut, in dem sie heute Nacht schlafen kann, braucht sie erst einmal nichts weiter. Na gut, vielleicht noch eine Lampe. Aber für diese beiden Dinge wird wohl irgendjemand irgendwann Zeit finden. Sie werden ja wohl nicht von ihr verlangen, heute Nacht ganze allein auf dem kalten Boden zu schlafen. Wenn doch, dann hat sie überhaupt keine Lust, hier zu sein.
Lina will im Gegensatz dazu keinerlei Hilfe haben. Nur bei ihren Möbeln dürfen sie ihr unter die Arme greifen und diese die Treppe hinaufwuchten. Als alles oben ist, macht sie den Helfern die Tür vor der Nase zu.
„Ich kann keine neugierigen Menschen gebrauchen, die ihre Nasen in meine Sachen stecken“, faucht sie bloß, als Oma ihr beim Auspacken helfen will. „Aber danke fürs Angebot. Als 15-Jährige besitze ich jedoch eine gewisse Privatsphäre.“
Da bleibt Oma nichts anderes übrig, als die Treppe wieder hinunterzusteigen. Sie flüstert Mama etwas ins Ohr, woraufhin die beiden verschwörerisch lächeln.
„Ich werde mal einen großen Eintopf kochen und heute Abend damit vorbeikommen, nicht wahr Vivian?“, fragt Oma ihre Tochter, als sie wenig später gemeinsam in der Küche stehen und beginnen, das Geschirr auszupacken. Oma ist die einzige, die Mama Vivian nennt. Alle anderen nennen sie Vimme. Oder Vivi oder Vimsen. Oder einfach nur Mama. Piv heißt ja auch nicht wirklich Piv. Eigentlich heißt sie Pernille, aber das konnte Lina nicht aussprechen, als Piv auf die Welt kam. Sie nannte ihre neugeborene Schwester immer „Piville“ und ehe man sich versah, wurde sie zu Piv. Sogar die Lehrer in der Schule nennen sie Piv und sie vergisst gelegentlich, dass sie eigentlich einen anderen Namen hat.
„Das ist lieb von dir, Mutter, aber das musst du wirklich nicht tun“, erwidert Mama Omas Angebot und trocknet ein Glas ab, bevor sie es in den Schrank zu den anderen Gläsern stellt. „Wir bestellen einfach Pizza oder so.“
Oma nickt und sie wechseln das Thema.
Piv langweilt sich. Egal wo sie sich aufhält, steht sie im Weg. Sie beschließt, ihrer Schwester Lina in ihrem Zimmer einen Besuch abzustatten.
***
Im oberen Stockwerk ist es still. Sehr still. So still, dass Piv sich langsam vorbeugen und durchs Schlüsselloch gucken muss, ob Lina überhaupt in ihrem Zimmer ist. Das ist sie. Sie sitzt auf dem Fußboden und wickelt allerlei Krimskrams aus Zeitungspapier aus. Vielleicht ist es doch besser, sie nicht zu stören. So spannend ist es bei Lina sicher auch nicht. Stattdessen wendet Piv sich um und sieht zu der Tür auf der anderen Seite der Treppe. Diese Tür führt zu einem langen schmalen Raum, der einmal Vaters Arbeitszimmer werden soll.
Piv hat ihrem Vater schon oft bei der Arbeit zugesehen. Sie kennt niemanden, der soviel telefoniert wie er. Einmal war sie auch auf einer seiner Baustellen zu Besuch, um zu sehen, wie alles zusammengebaut wird und entsteht.
Wenn einer von den Geschwistern krank war, arbeitete Papa von zu Hause aus. Er saß dann bei offener Tür immer am Schreibtisch im elterlichen Schlafzimmer. Der Schreibtisch stand so, dass man ihn vom Wohnzimmer aus sehen konnte. Und natürlich auch mit ihm sprechen konnte, wenn er nicht gerade telefonierte. Aber jetzt soll der Schreibtisch sein eigenes Zimmer bekommen und das bedeutet wohl, dass es nicht mehr annähernd so gemütlich wird.
„Was machst du hier oben?“, donnert es plötzlich hinter Piv. Erschrocken von der wütenden Stimme ihrer Schwester fährt sie zusammen. Sie hat gar nicht gehört, wie Lina aus ihrem Zimmer gekommen ist. „Hier oben ist nichts, was dich irgendwas angeht!“
Lina kann manchmal so eine blöde Kuh sein, wie kaum jemand anderes. Piv tut so, als wäre nichts und schließt leise die Tür des leeren schmalen Zimmers.
„Ich kann genauso gut hier oben sein“, murmelt sie und bemüht sich, nicht ängstlich zu klingen. „Dir gehört nicht die ganze Welt, nur dass du’s weißt!“
Ruhig geht sie an ihrer strunz-idiotischen Schwester vorbei und die Treppe runter. Hoffentlich, denkt sie, werde ich nicht genauso unmöglich, wenn ich ein Teenager bin. Da hab ich jedenfalls keine Lust drauf.
Statt sich darüber zu ärgern, hat Piv viel mehr Lust darauf, endlich ihre eigenen Sachen auszupacken. Das ist wahrscheinlich das einzige, was den heutigen Tag noch retten wird.
Als sie in ihrem neuen Zimmer unten im Keller ankommt, stellt Piv enttäuscht fest, dass noch niemand ihre Möbel vorbeigebracht hat.
Resigniert lässt sie sich mit ausgestreckten Armen und Beinen auf den Boden fallen. Eigentlich ist es hier unten ja ganz gemütlich. Außerdem hat sie hier ihre Ruhe vor Lina, dem alten Stinkstiefel. Und ein eigenes Badezimmer hat Piv hier unten auch. Endlich ist Schluss damit, dass Piv sich jeden Morgen die Beine in den Bauch steht, bis Lina fertig damit ist, ihr ganzes Gesicht mit all der Schminke zuzukleistern. Jedes Mal musste Piv eine halbe Ewigkeit warten, bevor sie ins Bad durfte um sich zu waschen und in ihre Kleider zu hüpfen.
Am liebsten hätte sie zwar auch ein Zimmer im oberen Stockwerk, dann aber hätte sie das kleine Zimmer nehmen müssen. Das, in dem Papas Schreibtisch nun stehen soll. Außerdem würde sie es so nah bei Lina nie aushalten. Das würde in einem Blutbad enden! Ein Blutbad aus Pivs Blut selbstredend.
Plötzlich knarrt es draußen vor Pivs Zimmer. Langsam setzt sie sich auf und legt ihre Arme schützend um ihre Knie. Dann hört sie den leichten, knarrenden Laut schon wieder und schielt vorsichtig aus der Zimmertür. Von hier aus hat sie einen guten Blick in den dunklen Kellerflur.
„Ach, hier versteckst du dich!“, ruft Vater freudig und tritt aus dem Schatten hervor. Mit seinem Werkzeugkasten in der Hand steht er in der Kellertür und lächelt in den dunklen Gang.
„Jetzt bist du wohl dran mit Einziehen, nicht wahr?“
Er stellt den Werkzeugkasten in die Mitte ihres Zimmerfußbodens. Piv steht auf und öffnet freudig die Pappkartons mit den neuen Regalteilen. Und nach nur einer kurzen Stunde stehen zwei neue Regale und ein gemütliches Bett in Pivs neuem Zimmer. Vater hat sogar schon ihre Leselampe am Bett befestigt, obwohl sie noch gar keine neue Glühbirne hat. Zum Glück scheint noch genug Sonne durch das kleine verstaubte Kellerfenster direkt unter der Decke. Von hier aus hat Piv einen Ausblick auf einen Haufen alter Milchkannen und die gepflasterte Einfahrt.
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