„Essen ist fertig!“, ruft Mama die Treppe herunter und Pivs Vater sammelt lächelnd sein Werkzeug zusammen.
„Mmh, das klingt gut!“, brummt er fröhlich vor sich hin und wuschelt mit einer Hand durch Pivs Haar. „Ich könnte ein ganzes Schwein verputzen!“
Piv versucht, ihre Haare wieder etwas glatt zu streichen, während sie ihrem Vater ins Wohnzimmer folgt. Aus einem unerklärlichen Grund muss er Piv immer durch die Haare wuscheln.
Lina hat als einzige blondes Haar. Dicke, helle Locken und große blaue Puppenaugen. An manchen Tagen, bevor sie sich ihre ganze Schminke ins Gesicht schmiert ist sie richtig schön.
Pivs Haar ist nicht so hell. Auch nicht richtig dunkel. Jedenfalls nicht so dunkel wie das ihres Vaters. Es ist mehr so eine langweilige Mischung aus Brauntönen.
Immerhin hat sie die rabenschwarzen Augen von ihrem Papa geerbt. Wenn sie richtig wütend wird, werden ihre Augen riesengroß, so dass man die Pupillen gar nicht mehr erkennt, sagt Lina jedenfalls.
***
Die Umzugsmannschaft sitzt bereits im Wohnzimmer und reicht sich kreuz und quer die Pizza über den Esstisch. Piv schaut kurz in das kleine Zimmerchen, das nun Mille gehört. Richtig schön ist es da drinnen. Es ist hellrot gestrichen mit kleinen aufgemalten goldenen Krönchen und bunten Luftballons. Die Decke ziert ein aufgemalter leuchtender Sternenhimmel. Ein richtiges kleines Prinzessinnenstübchen. Mille scheint es auch zu gefallen. Sie schafft es auf jeden Fall nicht, stillzusitzen und zu essen. Stattdessen läuft sie lachend zwischen dem Esstisch und ihrem Zimmer hin und her und sabbert vor lauter Aufregung.
Piv hatte sich gewünscht, ihre Wände in einem hellen Lila zu streichen und dieser Wunsch wurde ihr erfüllt. Lina hat ihr Zimmer wohl gelb streichen lassen. Gesehen hat Piv es noch nicht, denn dort ist ja Betreten verboten. Piv schafft es nicht mal, zwei Stufen der Treppe hochzusteigen, bevor Lina ihr schon entgegenbrüllt, sie solle sich vorsehen und besser verschwinden.
„Bist du zufrieden mit deinen gelben Wänden, Lina?“, fragt Papa beim Essen. Lina lächelt und nickt ihrem Vater zu. Plötzlich sieht sie gar nicht mehr so übelgelaunt aus wie normalerweise, aber darauf sollte man sich nichts einbilden. So etwas wie gute Laune kennt Lina eigentlich gar nicht. Ihre Persönlichkeit lässt sich über zwei Knöpfe steuern: gereizt und noch gereizter.
„Da habt ihr jetzt aber wirklich ein schönes Haus, Vimsen“, meint Großmutter während des Essens. „So viele Möglichkeiten, nicht wahr? Was ihr hier alles machen könnt! Und soviel Platz. Das ist alles so spannend.“
„Ja, wir werden es uns hier schön machen“, antwortet Mama und versucht, Mille einzufangen, die schon zum dritten Mal um den Tisch läuft. Unzufrieden windet sie sich in Mamas Armen hin und her, während Mutter ihr den Mund mit einem Stück Küchentuch abwischt. „Aber es ist noch viel zu tun, nicht wahr Erik?“ Sie wendet sich an ihren Mann. „Mit dem Dach und dem Keller und diesem Urwald da draußen im Garten.“
Pivs Vater nickt und streckt sich auf seinem Stuhl. „Wir haben auf jeden Fall eine Menge vor uns“, bestätigt er. „Das kostet ja auch alles ein bisschen Geld.“
„Dafür habt ihr das Haus ja relativ billig bekommen“, bemerkt Großvater, der als einziger seine Pizza mit Messer und Gabel isst und das Besteck zur Seite legt, während er spricht. „Selbst wenn man mal daran denkt, wie sehr die Immobilienpreise in den vergangenen paar Jahren gefallen sind...“
Piv sinkt in ihrem Stuhl zusammen. In ihren Bauch passt gar nichts mehr rein und sie hat keine Lust auf diese Erwachsenengespräche über Geld und Miete und Hauspreise und Dinge, die gemacht werden müssen. Normalerweise haben alle außer Mille bei ihnen zu Hause Tischmanieren, aber vielleicht kann Piv sich unbemerkt davonschleichen.
Doch plötzlich sagt ihr Vater etwas, dass sie aufhorchen lässt und vergessen lässt, dass sie gerade noch verschwinden wollte. Sie spitzt so sehr die Ohren, dass sie beinahe wehtun.
„Ja schon, aber es ist ja auch ein geerbtes Anwesen. Der ehemalige Besitzer ist gestorben“, bemerkt er fast wie nebenbei.
Piv gefriert das Blut in den Adern. Was für ein Anwesen soll das sein?
Zum Glück muss sie selbst nicht nachfragen, da das schon Lina übernimmt, mit ihrem vorwurfsvollen, beleidigten Ton.
„Ach, das ist ja widerlich“, faucht sie unzufrieden. „Ein Erbstück? Hier ist jemand drin gestorben? Ist das euer Ernst? Wieso habt ihr nicht gleich einen Friedhof gekauft, oder gar eine Grabkammer, in der wir hausen können?! Das ist echt abartig!“
Alle am Tisch wenden sich erstaunt zu Lina und blicken in ihr säuerliches Gesicht, aber ihr ist das total egal. Bockig verschränkt sie die Arme vor der Brust.
„Ja, glotzt mich doch an!“, meckert sie weiter. „Ich werde ganz bestimmt nicht in einem Haus wohnen, in dem eine stinkende Leiche herumlag. Das kann ich euch aber sagen. Ich verzichte!“
Normalerweise würde Piv ihre Schwester nun innerlich verfluchen, wenn sie so bockig herumätzt.
Aber genau jetzt ist sie eigentlich froh, dass Lina so einen Aufstand macht. Dann findet Piv vielleicht noch genauer heraus, was es mit diesem Anwesen genau auf sich hat und warum gerade ihre Eltern es gekauft haben.
„Süße Linamaus“, säuselt Pivs Mutter. Sie wirkt nicht mal böse. „Nur weil es ein Erbstück ist, heißt es doch nicht, dass der ehemalige Bewohner hier drin gestorben ist.“
Lina schielt argwöhnisch zu ihrer Mutter. Ihre Schultern senken sich beruhigt, während Mutter erklärt.
„Hier hat einmal ein alter Mann gewohnt. Bevor er gestorben ist, zog er ins Altersheim und das Haus wurde zum Verkauf angeboten. Er starb, bevor das Haus verkauft wurde. Aber er starb im Altersheim, verstehst du? Nicht hier.“
„Ja, immer mit der Ruhe“, fügt Vater schnell hinzu. „Den Toten, die hier im Haus umherspuken, hat dieses Haus nie gehört. Sie wohnen zur Zeit nur zur Miete hier.“
Er findet sich selbst enorm witzig und Großvater und er kriegen sich vor Gelächter kaum wieder ein. Aber weder Lina noch Piv finden das besonders lustig. Das sieht ihre Mutter genauso und fährt ihrem Mann über den Mund, indem sie das Essen für beendet erklärt und ihn bittet, abzuräumen und den Müll rauszutragen. Piv braucht auch seine Hilfe, um ihre Lampe aufzuhängen. Und vielleicht auch noch, um den Fernseher anzuschließen.
Mille will in dieser ersten Nacht in ihrem neuen Zuhause nicht ein einziges Auge zu machen. Sie will nach Hause und zwar auf der Stelle. Und ganz gleich wie viele Schlaflieder ihre Mutter ihr vorsingt – es hilft einfach nichts.
Piv sitzt auf dem Sofa und beobachtet ihren Vater dabei, wie er am Fernsehgerät herumtüftelt und versucht die Kanäle neu einzustellen. Lina ist längst in ihrem Zimmer verschwunden und Oma und Opa haben Großmutter nach Hause gefahren. Jetzt sitzt Piv ganz allein auf dem Sofa, nach diesem langen Umzugstag, und macht Feierabend. Auf dem Tisch stehen Kaffee, Mineralwasser und Gebäck. In der weißen Tasse ist Mutters Kaffee wie gewöhnlich schon wieder kalt geworden. Immer kommt ihr etwas dazwischen, bevor sie ihn austrinken kann.
„So“, klingt es stolz hinter dem Fernseher hervor, wo Vater im Schneidersitz an den Kabeln und Knöpfen herumgewerkelt hat.
„Was wollen wir sehen, Pivsen?“
Sie zuckt mit den Schultern und lässt drei Kaugummiblasen nacheinander in ihrem Mund zerplatzen. Vater soll aussuchen, worauf er Lust hat. Piv ist es eigentlich gleich. Sie merkt, wie die Müdigkeit langsam in ihr aufsteigt.
Mille wimmert immer noch hinter der Tür ihres hellroten Prinzessinnenzimmers. Wenn Piv die Ohren spitzt, kann sie hören, wie ihre Mama der kleinen Schwester immer und immer wieder das Elefantenschlaflied vorsingt. Mit einem lauten Gähnen erhebt Piv sich vom Sofa, streckt sich und gibt ihrem Vater einen Gutenachtkuss.
Читать дальше