Sanft und ruhig schläft Piv in dieser ersten Nacht in ihrem neuen lilafarbenen Kellerzimmer. Über ihr liegt die kleine Mille in ihrem hellroten Prinzessinnenzimmer, mit dem Kopf am Fußende ihres Bettchens und einem Meer an Kuscheltieren wie eine Schutzmauer um sich aufgestellt. Im Zimmer nebenan liegen Vater und Mutter in einem tiefen Schlaf. Wie gewöhnlich schnarcht Papa leise vor sich hin. Noch eine Etage weiter oben schläft Lina unter schrägen Wänden und umgeben von allerlei Krimskrams und Postern.
Es ist die Nacht von Samstag auf Sonntag – alle können am nächsten Morgen ausschlafen. Mutter und Vater wechseln sich an den Wochenenden regelmäßig ab, wer als erstes aufsteht und Frühstückskaffee für den anderen macht. Dann stellen sie meist eine Schale mit süßem Gebäck und zwei Tassen mit dampfendem Kaffee auf ein Tablett und kuscheln sich damit gemeinsam ins Bett. Wenn die Mädchen aufwachen, kriechen sie zu ihren Eltern ins warme Bett. Piv liebt diese Tage. Tatsächlich ist der Sonntagskaffee das letzte woran sie denkt, bevor sie in ihren tiefen Schlaf fällt.
Plötzlich schlägt das Unwetter um in einen wilden Sturm. Wütend rast er draußen durch den Garten und reißt einen der großen Bäume aus der Erde. Doch niemand bemerkt etwas davon; alle schlafen tief und fest. Erst als ein gleißender Blitz über den Himmel zuckt, gefolgt von brüllendem Donner, fährt Mille mit einem spitzen, ohrenbetäubenden Schrei aus dem Schlaf, der bis in Pivs Kellerzimmer dringt. Erschrocken fährt sie auf und sitzt kerzengerade in ihrem Bett. Ihr Herz schlägt heftig in ihrer Brust und sie atmet hastig. Langsam schwingt Piv die Beine über die Bettkante und steht auf.
Schlaftrunken tapst sie die Treppe hinauf. Pivs Mutter ist bereits in Milles Zimmer, steht an ihrem Hochbett und versucht sie zu trösten.
„Warum hat sie denn so geschrien?“, fragt Piv mit müder Stimme und reibt sich die Augen. Ihre Mutter dreht sich halb zu ihr um und lächelt, während sie Milles Kopf mit Küsschen bedeckt.
„Bist du auch vom Gewitter geweckt worden?“, fragt sie mit gedämpfter Stimme. Milles lautes Geplärre ist in ein wimmerndes und hicksendes Schluchzen übergegangen.
„Nee“, murmelt Piv. „Das war Mille. Wie spät ist es überhaupt?“
„Keine Ahnung“, antwortet Mama leise. „Aber es wird wohl bald Morgen. Es wird schon langsam etwas heller draußen.“
Piv dreht sich um und sieht aus dem Fenster. Man kann tatsächlich schon ein erstes Sonnenschimmern erkennen.
„Kannst du mal bitte im Schlafzimmer auf den Radiowecker gucken wie spät es ist?“
Schweigend gehorcht Piv, trabt leise die wenigen Schritte in das Zimmer nebenan, wirft einen raschen Blick durch den Türspalt in das dunkle Schlafzimmer.
„Es ist zwanzig vor sechs“, gähnt Piv, als sie zurück in Milles Zimmer kommt. Lächelnd sieht ihre Mutter sie an.
„Dann können wir ja eigentlich auch gleich aufstehen“, meint sie und streichelt Mille über die Wange. „Jetzt brauchen wir auch nicht mehr zurück ins Bett zu kriechen. Außerdem haben wir heute noch einiges vor.“
Mama lächelt und nimmt Mille auf den Arm. Dann geht sie an Piv vorbei ins Wohnzimmer.
„Willst du schon mal anfangen, den Frühstückstisch zu decken, Piv?“, fragt sie, bevor sie mit der strampelnden Mille in der Küche verschwindet. „Dann machen wir zwei uns einen frischen Kaffee!“
Müde schlurft Piv ihr hinterher, um das Geschirr zu suchen und den Tisch zu decken. Wenn sie es in dem Umzugschaos überhaupt findet.
„Hast du gut geschlafen, dort unten in den Katakomben?“, scherzt Vater, als die Familie zwischen unzähligen Umzugskisten und Chaos im Wohnzimmer sitzt und an aufgebackenen Gewürzbrötchen knabbert.
„Ganz gut“, antwortet Piv gleichgültig. Schließlich hat sie ja ganz gut geschlafen, bevor Mille sie aufgeweckt hat. Viel besser sogar, als sie gedacht hätte, als sie sich gestern Abend ins Bett gelegt hatte.
„Das war lecker!“, brummt Vater schließlich zufrieden und schlürft aus seiner Kaffeetasse. Mutter kratzt die letzten Cornflakes in Milles Schüsselchen mit einem Löffel zusammen und füttert das kleine Mädchen damit.
„Wie sehen denn unsere Pläne für heute aus, Vimme?“, fragt er dann an Mutter gerichtet und Piv weiß, dass mit dieser Frage das Ende des Sonntagsfrühstücks eingeläutet wird. Jetzt wird wieder geschuftet. Schnell bedankt sie sich fürs Essen und stiehlt sich vom Frühstückstisch davon. Ihren Teller und die Kakaotasse trägt sie in die Küche und stellt alles in den Geschirrspüler. Dann tapst sie in ihr Kellerreich, um sich anzuziehen. Immer noch stehen alle ihre Kisten herum, die darauf warten, ausgepackt zu werden. Hoffentlich ist es hier unten nicht mehr so gruselig, wenn draußen erst einmal die Sonne richtig aufgegangen ist.
***
Im Laufe des Vormittags kommt Oma wieder vorbei, zusammen mit Tante Berit, Onkel John und Pivs Cousine Sabine.
„Hör mir auf, Vimme, wie schön ihr es euch hier machen könnt!“, jauchzt Tante Berit, als Mutter sie durch die untere Etage des neuen Hauses führt. Vater und Onkel John stehen im Wintergarten und sehen bestürzt auf den vom Unwetter umgestürzten Baum. Er ist so riesig, dass er beinahe den ganzen Garten bedeckt. Vater war alles andere als begeistert, als er ihn früh am Morgen dort liegen sah. Aber Onkel John beruhigt ihn mit den Worten, mit einer Motorsäge in Windeseile Klarschiff zu machen.
Piv hat keine Lust, sich groß mit den Erwachsenen zu beschäftigen. Am liebsten will sie ihre Cousine Sabine mit auf ihr Zimmer schleifen und somit vermeiden, ihren Eltern bei irgendwelchen Arbeiten unter die Arme greifen zu müssen.
„Ach herrje, was für ein entzückender kleiner Raum!“ Tante Berit plappert immer noch ganz aufgeregt, während Mutter sie durch die anderen Zimmer führt. „Wie wunderschön! Wie ein kleines Prinzessinnenzimmer! Genau das Richtige für euren kleinen süßen Spatz. Und wo schlaft ihr?“
Piv zieht Sabine energisch aus der Küche fort und schnappt im Vorbeigehen eine Keksrolle aus dem Regal. „Komm, ich zeig dir mein Zimmer“, verkündet sie. Sabine nickt eifrig.
„Ja, verdammt nochmal!“, ruft sie erleichtert und springt vom Küchentisch herunter auf dem sie gesessen hat.
Gerade, als die beiden Mädchen sich auf den Weg in den Keller machen, kommen Oma und Mille aus dem Badezimmer.
„Hallo Oma!“, rufen Piv und Sabine im Chor. Oma lächelt die beiden milde an, doch Mille wirft Sabine einen giftigen Blick zu.
„Meine Oma!“, krakelt sie sofort und zeigt entzürnt mit ihrem kleinen Wurstfingerchen auf ihre große Cousine. Piv und Sabine müssen kichern und Oma nickt schmunzelnd, während sie Milles Strumpfhose zurechtzupft.
„Das ist auch meine Oma“, entgegnet Sabine salopp; dann springen die beiden Mädchen leichtfüßig die Kellertreppe hinunter.
„Wie cool, dass du den ganzen Keller hier für dich hast!“, stellt Sabine fest, als sie am Fuß der Treppe angekommen sind und in Richtung Pivs Zimmer gehen. Mit großen Augen schaut sie sich um. „Sollen wir mal deine Sachen fertig einräumen?“
Piv zuckt mit den Schultern. Es wäre eigentlich gar nicht so schlecht, ein bisschen Gesellschaft beim Auspacken zu haben. Doch Sabine hat schon längst etwas anderes entdeckt.
„Was ist das dort?“, will sie wissen und deutet mit dem Zeigefinger aus dem Zimmer hinaus den Kellergang hinab. „Zeig mir mal, was da ist!“
Piv steht auf und führt ihre Cousine den dunklen Kellergang hinab. Sie beginnt ihre kleine Kellerführung am Ende des Ganges beim Badezimmer.
„Was ist hier so drin?“ Sabine öffnet neugierig die Tür und drückt auf den Lichtschalter. Das Bad liegt genau gegenüber der vollgerümpelten Abstellkammer. Das Licht aus dem Badezimmer wirft einen schmalen hellen Streifen in den dunklen Flur. Piv stöhnt auf. Wieso hat sie gestern Abend nicht einfach das Licht im Bad angemacht, statt hier im Dunkeln umherzutasten? Dann hätte sie vielleicht auch erkannt, ob wirklich noch jemand außer ihr hier gewesen ist.
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