Ein für die Entwicklung der Gerontologie wichtiges Datum stellt das Jahr 1989 dar, in dem das international seit den 1970er-Jahren aktive und gut wahrgenommene deutsche Forscherpaar Margret und Paul Baltes das Modell der »Selektiven Optimierung mit Kompensation« (SOK) vorstellte (
Kasten 2.1). Dieses lebensspannenpsychologische Modell kann bis heute zurecht als die zentrale grundlagenwissenschaftliche Theorie in der Gerontopsychologie bezeichnet werden (
Kap. 8.3.1für eine Anwendung des SOK-Modells auf die therapeutischen Praxis).
Kasten 2.1: Modell der Selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK)
Das SOK-Modell basiert auf der Annahme, dass im Alter eine aktive Anpassung an zunehmende körperliche, kognitive und soziale Verluste möglich ist. Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK) sind dabei die drei wesentlichen Komponenten, die ein erfolgreiches Altern (»successful aging«) begünstigen und mit subjektivem Wohlbefinden einhergehen.
• Selektion bedeutet, wichtige – positive und persönlich bedeutsame – Ziele zu verfolgen, anstatt sämtliche Ziele auf einmal erreichen zu wollen. Das kann für eine ältere Person bedeuten, sich auf ihre wichtigen Vorhaben und Potenziale zu fokussieren und nicht mehr erreichbare Vorhaben aufzugeben, oder die eigenen Ansprüche zu senken. Damit schützt Selektion im Alter davor, sich in Anbetracht knapper werdender Ressourcen körperlich und psychisch auszulaugen und Selbstwert schwächende Frustrationserlebnisse zu vermeiden. Selektion ist bedeutsam, wenn Verluste drohen (proaktive Selektion) oder bereits eingetreten sind (reaktive Selektion). Ein Beispiel für Selektion ist ein älter werdender Langstreckenläufer, der mit zunehmendem Alter das Laufen nicht aufgibt, aber mehr kurze Strecke läuft.
• Optimierung bedeutet, bestehende Fähigkeiten zu nutzen oder zu verbessern. Die Umsetzung von Optimierungsprozessen wird durch eine fördernde, unterstützende Umwelt und die Bereitstellung von Möglichkeiten begünstigt. Ein Beispiel für Optimierung ist eine ältere Frau, die ihre bestehenden sozialen Kontakte im Alter weiter intensiviert und ihr Talent zum Texteschreiben durch Teilnahme an Online-Schreibkursen noch verbessert.
• Kompensation ist dann notwendig, wenn Fähigkeiten eingeschränkt sind oder verloren gehen und die bisherigen Strategien nicht ausreichen, um die Verluste auszugleichen. Kompensation kann beinhalten, technische Hilfsmittel wie einen Rollator oder Tablets einzusetzen, oder mehr auf Unterstützung durch andere zurückzugreifen. Kompensation kann sich auch auf das Training und die Nutzung neuer Fertigkeiten beziehen, wie etwa technische Kompetenzen, um Videokonferenzen mit Freunden durchführen zu können, wenn man in seiner Mobilität eingeschränkt ist.
Für das SOK-Modell spricht, dass in Fragebogenuntersuchungen ältere Menschen, die in geringem Umfang SOK-Strategien einsetzen, weniger Zufriedenheit mit ihrem eigenen Altern, mehr emotionale Einsamkeit und weniger positive Gefühle aufweisen (Freund und Baltes 2007).
2.4 Aktueller Stand der Psychotherapieforschung
Die American Psychological Association hat 2003 erstmals »Guidelines for psychological practice with older adults« formuliert (aktualisiert 2014), die auch an vielen Stellen in das vorliegende Buch eingeflossen sind. Die Tatsache, dass ein Grundkonsens unter Experten gefunden wurde, markiert, dass sich das Forschungsfeld seit den 2000er-Jahren klar etabliert hat.
Auf Grundlage der seit den 1990er-Jahren durchgeführten Evaluationsstudien ist die Wirksamkeit von Psychotherapie bei älteren Menschen in der Zwischenzeit zumindest für Depression gut belegt (Mitchell und Pachana 2020). Nach den Ergebnissen von Meta-Analysen und systematischen Reviews sind psychotherapeutische Interventionen zur Behandlung manifester und subklinischer depressiver Symptomatik im höheren Lebensalter effektiv und gegenüber passiven Kontrollgruppen und herkömmlicher Behandlung überlegen (Gühne et al. 2014; Huang et al. 2015). Für Angststörungen liegen mittlerweile auch kontrollierte Studien vor, allerdings fällt die Befundlage gemischter aus.
Insgesamt liegt nach einem Review von Raue (2017) die umfangreichste und positivste Evidenzlage für die psychotherapeutische Behandlung von Depression mittels Problemlösetherapie (PST,
Kap. 8.2), Kognitiver Verhaltenstherapie (KVT,
Kap. 8.3) sowie Lebensrückblicktherapie (LRT,
Kap. 8.6) vor. Außerdem kann die Interpersonelle Psychotherapie (IP,
Kap. 8.8) klar als evidenzbasiertes Verfahren im Alter eingestuft werden. Dabei gab es Fortschritte in der Entwicklung psychotherapeutischer Behandlungen von Depression im Zusammenhang mit chronischen und akuten körperlichen Erkrankungen (etwa Schlaganfall, bei Herzinsuffizienz, COPD, Diabetes und Parkinson) und bei Suizidalität. Innerhalb der »dritten Welle« der Verhaltenstherapie liegt die meiste Evidenz für Akzeptanz- und Commitmenttherapie vor (ACT,
Kap. 8.5.1). Vereinzelt wurden auch Adaptationen für Schematherapie und Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) beschrieben (
Kap. 8.5.2). Insgesamt sind allerdings neuere Psychotherapieansätze einschließlich jener der »Dritten Welle« noch nicht in randomisiert-kontrollierten Studien überprüft worden (Sadavoy 2014). Es liegen vergleichsweise wenige gut kontrollierte Studien für psychodynamische Psychotherapie mit älteren Menschen vor, wobei die bisherige Evidenzlage vielversprechend ausfällt (Gühne et al. 2014).
Allerdings basiert die dargestellte Befundlage primär auf Stichproben mit vergleichsweise »jungen«, selbstständig lebenden älteren Menschen. Sehr alte, pflegebedürftige und gebrechliche Patientinnen mit Multimorbidität und psychischen Komorbiditäten waren bisher noch kaum Gegenstand systematischer psychotherapeutischer Forschung. Wenn multimorbide, immobile, pflegebedürftige bzw. geriatrische Patienten als Patientengruppe berücksichtigt wurden, dann geschah dies innerhalb von Studien, in denen Psychotherapie als Therapiebaustein in ein multimodales Versorgungskonzept integriert war (Tegeler et al. 2020). Dazu gehören Studien auf Grundlage eines kollaborativen bzw. Stepped Care-Ansatzes (z. B. Unützer et al. 2002), außerdem Evaluationen von Gruppentherapien in der stationären Geriatrie z. B. (Hummel et al. 2015) sowie von behavioralen Interventionen in Pflegeheimen (Meeks et al. 2008). Ein weiteres Forschungsdefizit besteht darin, dass bislang lebensspannenpsychologische Erkenntnisse – wie etwa die zum sozioemotionalen Altern (
Kap. 7.5) – noch nicht systemisch in die Therapiekonzeption eingeflossen sind. Eine Ausnahme bildet die in Deutschland laufende randomisiert-kontrollierte Studie PSY-CARE (Gellert et al. 2020), in welcher eine um Elemente der LRT erweiterte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung bei zuhause lebenden älteren Patientinnen mit Depression und Pflegebedarf in Bezug auf Implementierbarkeit und Wirksamkeit hin untersucht wird.
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