»Weil du es so wolltest.«
»Dann muss ich gestehen, eine beklagenswerte Eingebung gehabt zu haben, und wenn …«
»Ah, seht einmal da!« fällt Yvernes ein, der mit der Hand nach einem bestimmten Punkte des Himmels weist, wo ein dünner Mondstrahl die Ränder einer Wolke mit weißlicher Einfassung säumt.
»Was gibt es denn, Yvernes?«
»Zeigt jene Wolke nicht ganz die Gestalt eines Drachens mit ausgebreiteten Flügeln und einem Pfauenschwanze mit hundert Argusaugen darauf?«
Jedenfalls ist Sébastien Zorn nicht mit der Fähigkeit, hundertfältig zu sehen, ausgerüstet, die den Hüter der Tochter des Inachos auszeichnete, denn er bemerkt nicht ein tief ausgefahrenes Gleise, worin er unglücklicherweise mit dem Fuße hängenbleibt. Dadurch fällt er platt auf den Leib, sodass er mit seinem Kasten auf dem Rücken einer großen Coleoptere gleicht, die auf der Erde hinkröche.
Natürlich kommt der Instrumentalist wieder in Wut – er hat ja auch alle Ursache dazu – und schimpft auf die erste Violine wegen deren Bewunderung ihres in der Luft schwebenden Ungeheuers.
»Da ist nur der Yvernes dran schuld!« fährt Sébastien Zorn auf. »Hätte ich nicht nach seinem verwünschten Drachen gesehen …«
»Es ist gar kein Drache mehr, liebe Freunde, sondern jetzt nur noch eine Amphora! Mit einigermaßen entwickelter Fantasie bemerkt man sie in der Hand der Nektar einschenkenden Hebe …«
»Doch denken wir daran, dass in jenem Nektar verteufelt viel Wasser ist«, ruft Pinchinat, »und hüten wir uns, dass deine reizende Göttin der Jugend nicht ein Sturzbad über uns ausgießt!«
Das hätte die Lage der Wanderer freilich noch verschlimmert, und tatsächlich fängt das Wetter an, mit Regen zu drohen. Die Vorsicht treibt also zur Eile, um in Freschal rechtzeitig Schutz zu finden.
Man hebt den zornschnaubenden Violoncellisten auf und stellt den Brummbär wieder auf die Füße. Der freundliche Frascolin erbietet sich, ihm seinen Kasten abzunehmen. Sébastien Zorn will das zuerst nicht zugeben … er, sich von seinem Instrumente trennen … einem Violoncell von Gaud und Bernardel … das heißt ja, von einer Hälfte seines Selbst … Er muss sich aber fügen, und somit geht diese kostbare Hälfte auf den Rücken des dienstwilligen Frascolin über, der dafür sein leichtes Etui genanntem Zorn anvertraut. Nun geht es weiter und raschen Schrittes zwei Meilen vorwärts, ohne dass sich etwas Besonderes ereignet. Die mit Regen drohende Nacht wird immer finsterer. Schon fallen einige große Tropfen, der Beweis, dass sie aus hochziehenden, gewitterhaften Wolken stammen. Die Amphora der hübschen Hebe unseres Yvernes entleert sich jedoch nicht weiter, und die vier Nachtwandler dürfen hoffen, Freschal im Zustande vollständiger Trockenheit zu erreichen.
Immerhin bedarf es noch peinlichster Aufmerksamkeit, um auf dieser finsteren Straße nicht zu Fall zu kommen, denn abgesehen von den tiefen Wagenspuren verläuft sie oft in scharfen Krümmungen um vorspringende Felsmassen oder führt neben düsteren Schluchten hin, aus denen der Trompetenton der Berggewässer heraufschallt. Wenn Yvernes das bei seiner Sinnesveranlagung poetisch findet, so nennt es Frascolin bei der seinigen mindestens beunruhigend.
Daneben waren noch unliebsame Begegnungen zu fürchten, die die Sicherheit aller Reisenden auf den Landstraßen Niederkaliforniens sehr zweifelhaft machen. Das Quartett besaß an Waffen aber nur die drei Violin- und den einen Violoncellbogen, die in einem Lande, wo der Colt’sche Revolver erfunden und damals noch erheblich verbessert worden war, doch als etwas unzureichend erscheinen dürften. Wären Sébastien Zorn und seine Kameraden Amerikaner gewesen, so würden sie sich jedenfalls mit dieser handlichen Schutzwaffe versehen haben, die man dortzulande immer in einer besonderen kleinen Hosentasche bei sich trägt. Um auch nur auf der Bahn von San Franzisko nach San Diego zu fahren, würde sich kein waschechter Yankee ohne diesen sechsschüssigen Begleiter auf die Reise begeben haben. Unsere Franzosen hatten das freilich nicht für nötig erachtet. Fügen wir hinzu, dass sie daran gar nicht gedacht und es doch vielleicht zu bereuen haben dürften.
Pinchinat marschiert an der Spitze und behält die Böschungen der Straße scharf im Auge. Wo diese von rechts und links her sehr eingeengt erscheint, ist ein unerwarteter Überfall weniger zu fürchten. Als Bruder Lustig wandelt ihn immer einmal das Verlangen an, seinen Kameraden »einen gelinden Schrecken einzujagen«, z.B. dadurch, dass er plötzlich stehenbleibt und mit vor Schreck bebender Stimme murmelt:
»Halt! … Da unten … was seh ich da?… Halten wir uns fertig, Feuer zu geben!«
Wenn der Weg sich aber durch einen dichten Wald hinzieht, inmitten der Mammutbäume, der hundertfünfzig Fuß hohen Sequoias, jener Pflanzenriesen des kalifornischen Landes … dann vergeht ihm selbst die Lust zum Scherzen. Hinter jedem dieser ungeheuren Stämme können sich bequem zehn Mann verbergen. Sollten sie hier nicht das Aufblitzen eines hellen Scheines, dem ein trockner Knall folgt, zu sehen, nicht das schnelle Pfeifen einer Kugel zu hören bekommen? An solchen, für einen nächtlichen Überfall wie geschaffenen Stellen heißt es die Augen offen halten. Und wenn man zum Glück nicht mit Banditen zusammenstößt, so rührt das daher, dass diese ehrsame Zunft aus dem Westen Amerikas ganz verschwunden ist oder sich jetzt nur noch Finanzoperationen an den Märkten der Alten und der Neuen Welt widmet. Welches Ende für die Nachkommen eines Karl Moor, 2eines Johann Sbogar! Und wem sollten derlei Gedanken kommen, wenn nicht unserem Yvernes? Entschieden – meint er – ist das Stück der Dekoration nicht wert!
Plötzlich bleibt Pinchinat wie angewurzelt stehen.
Frascolin tut desgleichen.
Sébastien Zorn und Yvernes gesellen sich sofort zu beiden.
»Was gibt es?« fragt die zweite Violine.
»Ich glaubte, etwas zu sehen …«, antwortete die Bratsche.
Diesmal handelt es sich nicht um einen Scherz seinerseits. Offenbar bewegt sich eine Gestalt zwischen den Bäumen hin.
»Eine menschliche oder tierische?« erkundigt sich Frascolin.
»Das weiß ich selbst nicht.«
Was jetzt am besten zu tun sei, das unterfing sich niemand zu sagen. Dicht aneinandergedrängt starren alle laut- und bewegungslos vor sich hin.
Dicht aneinandergedrängt
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