Frau Grunert war es, die das Thema wechselte, und Isabell ging sofort darauf ein. Sie plauderte unbefangen, zeigte sich von ihrer liebenswürdigsten Seite, und Dr. Grunert, der eine Schwäche für seine Jüngste hatte, bekam, wie nach jeder Auseinandersetzung, das Gefühl, doch zu streng gewesen zu sein.
Isabell, die ihren Vater sehr gut kannte, spürte genau, was in ihm vorging. Nach dem Mittagessen — es hatte zum Abschluß Äpfel im Schlafrock gegeben — schlängelte sie sich zu ihm. Dr. Grunert saß in seinem bequemsten Sessel, las die Zeitung, rauchte eine Zigarre und wartete auf den Kaffee.
Isabell legte von hinten die Arme um seinen Hals, rieb ihr Gesicht an seiner Wange.
„Na, Kleines, was gibt’s?“ fragte er, ohne sie anzusehen.
„Mein guter, holder Papa … ich habe eine große Bitte!“
„Im vorhinein bewilligt … falls es sich nicht um du-weißtschon-was handelt!“
„Aber nein, Papa! Was glaubst du denn von mir! Es ist nur eine ganz einfache winzige kleine Bitte, eigentlich ist es sogar mehr ein Wunsch!“
„Eben war die Bitte noch sehr groß, wenn ich dich richtig verstanden habe!“
„Nun ja, tatsächlich ist sie so mittel … mittelgroß, meine ich. Darf ich wohl … hättest du etwas dagegen, wenn ich heute nachmittag mein neues Kleid anziehe?“
Dr. Grunert ließ die Zeitung sinken und sah seine Tochter erstaunt an. „Wieso fragst du mich? Für Kleiderfragen war ich doch niemals zuständig!“
„Aber du bist der Herr im Hause. Du mußt entscheiden!“
„Aha, mir schwant etwas, du Schlange. Mutter hat es verboten, und nun versuchst du, mich herumzukriegen!“
„Papa!“ sagte Isabell mit Würde. „Du tust mir wirklich unrecht. Ich habe Mutter überhaupt noch nicht gefragt!“
„Ist das wahr?“
„Ich habe noch nie gelogen!“
„Gut, ich glaube dir. Wenn Mutter nichts dagegen hat … von mir aus mach, was du willst!“
Isabell ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie schnappte ihr neues moosgrünes Samtkleid und die Ballerinenschuhe vom Geburtstagstisch, rannte in die Küche, wo Frau Grunert Kaffee filterte, rief: „Hurra! Ich darf mein Neues anziehen! Hurra, hurra, hurra!“
„Wer hat dir das erlaubt?“ fragte Elke, die schon mit dem Spülen begonnen hatte.
„Vater!“
„Hör mal, Liebling“, sagte Frau Grunert, „meinst du, daß das wirklich richtig ist: Das Kleid ist doch viel zu fein für eine Kindergeburtstagsgesellschaft!“
„Für meine Geburtstagsgesellschaft kann gar nichts fein genug sein!“
„Laß dir mal von deiner großen Schwester was sagen“, mischte Elke sich ein. „Zu den Grundbegriffen des guten Benehmens gehört es, daß man sich als Gastgeberin nicht wer weiß wie herausputzt. Du solltest dich so anziehen, daß alle deine Freundinnen sich wohl fühlen, auch die, die vielleicht gar nichts besonders Schickes haben. Bloß eine alberne Gans will immer und überall die Schönste sein.“
„Danke für die Blumen“, sagte Isabell schnippisch, „nur gut, daß du mir gar nichts zu befehlen hast!“
Frau Grunert nahm den Filter von der Kanne, stellte sie auf ein Tablett. „Mir kommt es fast vor, als ob Elke recht hätte“, sagte sie. „Sicher sind nicht alle deine Freundinnen so verwöhnt wie du wirklich, findest du dieses gute Kleid nicht doch übertrieben? Außerdem ist es sehr empfindlich. Schon der geringste Fleck …“
Isabell umarmte ihre Mutter so stürmisch, daß sie fast die Kaffeekanne zu Boden riß. „Mach dir nur keine Sorgen, Mamutschka, ich paß schon auf!“
Ehe Frau Grunert noch etwas einwenden konnte, war sie aus der Küche gesaust.
Isabell nahm sich sehr viel Zeit zum Umkleiden. Das moosgrüne Samtkleid wirkte, wie sie fand, angezogen noch schöner und machte sie fast erwachsen. Nachher drehte sie sich vor dem Spiegel und war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden.
„Na, wie gefalle ich euch?“ fragte sie strahlend, als sie fix und fertig angezogen ins Wohnzimmer trat.
Aber niemand antwortete ihr. Der große Raum war leer. Dr. Grunert war schon ins Büro gegangen, Bernd arbeitete sicher auf seinem Zimmer.
Eine Sekunde lang war Isabell enttäuscht, dann benutzte sie rasch die Gelegenheit, das goldene Kettchen aus dem weich ausgepolsterten Kästchen zu nehmen und es sich um den Hals zu legen.
Sie lief in die Küche. Das Mittagsgeschirr war fortgeräumt, die Mutter war gerade dabei, die Kaffeetassen wieder an ihren Platz zu stellen.
„Wie sehe ich aus?“ rief Isabell glücklich.
„Sehr schön, mein Liebling“, sagte Frau Grunert. Aber das hatte wenig zu bedeuten, denn Isabell wußte, daß sie für die Mutter immer schön war.
Sie konnte es kaum erwarten, bis ihre Freundinnen kamen, aber bis dahin war noch eine gute Weile Zeit. Nicht sehr freudig half sie den Kaffeetisch decken, war froh, als Elke sie ablöste.
Gerade wollte sie sich heimlich, still und leise auf ihr Zimmer verdrücken, als der erste Gast erschien: es war Lolo Klausner, ihre beste Freundin. Sie trug unter dem Wintermantel ein geblümeltes Seidenkleid.
Lolo brachte ein Buch und einen kleinen Kaktus, sie gratulierte sehr herzlich und bewunderte Isabells Geschenke.
Die beiden Freundinnen blieben nicht lange allein, fünf Minuten später kamen Sybill und Christine, beide hübsch, aber ganz und gar nicht aufwendig angezogen. Susanne folgte ihnen auf dem Fuß.
Natürlich war es Susanne, die die Frage stellte, auf die Isabell innerlich schon lange gewartet hatte. „Na, wo hast du denn dein neues Radio, Isabell?“ fragte sie heuchlerisch.
Isabell zuckte die Achseln. „Leider … Fehlanzeige!“
„Aber … du hast uns doch gesagt …!?“ rief Sybill, nicht ohne Schadenfreude.
„Tut mir leid. Man sagt eben viel, wenn der Tag lang ist.“
„Ein Wellensittich ist doch viel … viel induvidueller!“ versuchte Lolo der Freundin zu helfen, wobei sie sich bei dem schwierigen Fremdwort fast die Zunge verstauchte.
„Kann er Musik machen?“ fragte Susanne scheinheilig.
„Das nicht … aber sprechen lernen!“
Bevor die Freundinnen sie noch weiter ärgern konnten, streckte Elke ihren Kopf ins Zimmer und rief: „Es hat wieder geklingelt, Isabell … möchtest du nicht aufmachen?“
„Das ist bestimmt Rosemarie!“ sagte Isabell und lief in die Diele hinaus.
Sie hatte sich nicht geirrt.
Als sie die Wohnungstür öffnete, stand Rosemarie Berger vor ihr, sehr elegant in einem Wintermantel mit Pelzkrägelchen, wie Isabell mit einem Blick feststellte.
Von dieser Sekunde an waren Isabells Gefühle für die andere vorwiegend feindlich, denn sie konnte es nicht ertragen, wenn jemand außer ihr selber gut angezogen war. Außerdem war nicht zu leugnen, daß Rosemarie hübsch war, sehr hübsch sogar, und das gab Isabell den Rest.
Mit Mühe zwang sie sich zu einem Lächeln, als sie Rosemarie die Hand schüttelte. „Fein, daß du kommst“, sagte sie. Rosemarie übergab ihr Geschenk, betrachtete Isabell von Kopf bis Fuß. „Ich glaube, ich habe noch eine Überraschung für dich!“ sagte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ah, wirklich?“ fragte Isabell ohne großes Interesse.
„Hast du dein Kleid schon lange?“
„Heute bekommen. Warum fragst du?“
„Dann halte dich fest, damit du nicht umfällst!“
„Ach, ich bin gar nicht so schreckhaft“, behauptete Isabell, „ich …“
Weiter kam sie nicht, ihr Mund blieb offen, ohne daß sie noch ein Wort hervorbrachte.
Rosemarie hatte ihren Mantel ausgezogen und — zum Vorschein kam genau das gleiche Kleid, wie Isabell selber es trug: aus moosgrünem Samt mit glattem Oberteil, dreiviertellangen Ärmeln, rundem Ausschnitt und einem angekrausten, stark gebauschten Rock.
„Nein“, sagte Isabell, „o nein!“
„Leider doch!“ sagte Rosemarie und warf einen selbstgefälligen Blick in den Garderobenspiegel. „Aber mach dir nichts draus. Unsere Wege werden sich außer diesem einen Nachmittag ja kaum allzu oft kreuzen.“
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