Herr Grunert packte Isabell bei den Schultern, bog ihren Oberkörper zurück, so daß er ihr verweintes kleines Gesicht sehen konnte. „Isabell, bitte!“ sagte er. „Nun tu mir die Liebe und sei vernünftig! Was für einen Sinn hätte denn ein eigenes Radio für dich gehabt? Sieh dich nur um! Da hinten stehen ein Radio, ein Plattenspieler und ein Fernsehapparat. Sie gehören zwar nicht dir, aber du kannst sie jederzeit benutzen. Niemand stört dich dabei, denn Elke und ich kommen immer erst abends heim, und Bernd ist fast nie hier im Wohnzimmer. Also … was soll’s?“
„Ich habe doch auch kein eigenes Radio, Isabell“, tröstete Elke, „und Bernd auch nicht!“
„Ich halte nichts von der ewigen Radiodudelei, das weißt du ganz genau“, sagte Herr Dr. Grunert. „Ein Radio in deinem Zimmer würde dich bloß bei den Schularbeiten stören!“
„Ich hätte es ja mitnehmen können, wenn wir verreisen“, sagte Isabell schluchzend.
„Das hätte mir grade noch gefehlt! Radiomusik im Hotelzimmer, am Strand und auf der Kurpromenade … nein, danke!“
„Ich weiß genau, was mit dir los ist“, sagte Elke. „Du hast dich da in etwas verrannt! Gib dir einen Ruck und denk nicht mehr an das alberne Radio!“
„Aber ich habe es jetzt doch schon allen erzählt! Alle wissen, daß ich ein Radio bekomme … ich meine, alle glauben es! Wie stehe ich denn da! Ich bin bis auf die Knochen blamiert … am liebsten möchte ich, daß überhaupt niemand zu mir kommen soll!“ rief Isabell verzweifelt.
Elke stand auf. „Wenn das dein Ernst ist … ich kann, wenn du willst, sofort versuchen, deine Freundinnen zu erreichen. Sie werden zwar ein bißchen enttäuscht sein, daß der Kaffeeklatsch nicht stattfindet …“
Isabell sprang vom Schoß ihres Vaters. „Elke … du bist gemein! So etwas von gemein!“
Dr. Grunert packte sie im Nacken. „Isabell, hier hört der Spaß auf! Wir haben alle eine Engelsgeduld mit dir … aber was zu weit geht, geht zu weit!“
Isabell riß sich los. „Niemand hat mich lieb!“ rief sie. „Niemand! Auch du nicht! Am liebsten möchte ich tot sein!“
Es wurde ein sehr bedrücktes Mittagessen.
Frau Grunert hatte eine klare Brühe mit Markklößchen gekocht, die Isabell so gern mochte, dann gab es gespickten Rehrücken mit Preißelbeeren und Kartoffelklößen, Isabells Lieblingsspeise. Der Platz des Geburtstagskindes war mit kleinen Rosenknospen geschmückt, aber der Stuhl davor war leer. Isabell hatte sich, außer sich vor Ärger und Enttäuschung, auf ihrem Zimmer eingeschlossen.
„Das arme Kind“, sagte Frau Grunert, „bestimmt ist sie schrecklich unglücklich … und das ausgerechnet an ihrem Geburtstag!“
Elke zwinkerte ihrem Vater zu. „Ich fürchte, Mutter tut’s schon leid, daß ihr ihr den Apparat nicht geschenkt habt!“
„Ich bin immer dafür gewesen, daß sie ihn bekommt“, erklärte Frau Grunert ernsthaft. „Ich sehe gar nicht ein, warum wir ihre Herzenswünsche nicht erfüllen sollen. Sie ist doch nun mal unser Nesthäkchen. Ihr müßt immer bedenken, daß Isabell nach den großen Geschwistern schielt und ihre Wünsche danach richtet. Das ist doch verständlich, und warum soll man ihr nicht alle Freude gönnen? Später, wenn sie größer ist, wird sie ganz von selber merken, daß nicht alles so geht, wie man gerne möchte!“
„Du bist zu gut für diese Welt, Gerda“, sagte der Vater, „das ist dein Fehler.“
„Nicht für diese Welt … nur für Isabell!“ sagte Elke. „Ich hab’ sie wirklich auch von Herzen gern, Mutter, sie ist schließlich meine kleine Schwester, und ich verstehe vollkommen, daß die Jüngste immer ein bißchen verwöhnt wird. Besonders wenn der Altersunterschied so groß ist wie zwischen Isabell und mir. Trotzdem bin ich mir vollkommen darüber im klaren, daß unser Küken es faustdick hinter den Ohren hat. Sie hat es darauf abgesehen, jeden ihrer Wünsche durchzusetzen, sonst gibt es ein Theater.“
„Bloß diesmal hat sie sich ins eigene Fleisch geschnitten“, sagte Bernd voller Genugtuung, „geschieht ihr ganz recht, daß wir ihren Geburtstagsbraten ohne sie aufessen. Schmeckt übrigens ausgezeichnet, Mutter … Kann ich noch einen Löffel Preißelbeeren haben?“
„Ob ich nicht doch noch mal an ihre Tür klopfen sollte?“ sagte Frau Grunett. „Wenn ich ihr einen Teller hinstelle … vielleicht holt sie ihn dann herein.“
„Untersteh dich!“ sagte der Vater. „Nur wer krank ist, darf im Zimmer essen. Sonst niemand. Das wollen wir gar nicht erst einreißen lassen.“
„Aber sie muß doch Hunger haben!“
„Wenn sie es nicht mehr aushalten kann, wird sie sich schon entschließen, ihre Höhle wieder zu verlassen! Und wenn zehnmal ihr Geburtstag ist — dies Benehmen ist mir zu dumm. Ich bitte dich sehr, Gerda, endlich einmal mit dieser dummen Verzärtelung aufzuhören. Letzten Endes gesdchieht Isabell nichts Gutes, wenn sie so maßlos verzogen wird.“
Sie aßen und taten, als ob es ihnen schmeckte.
Das schlechtgelaunte Geburtstagskind stand inzwischen in seinem Zimmer mit dem Ohr an der Tür und lauschte, ob nicht doch jemand käme, um sie noch einmal zum Essen aufzufordern. Erst hatte sie auf dem Bett gelegen und geweint, sie hatte vor Wut in ihr Kopfkissen gebissen, aber dann hatte ihr Magen zu knurren begonnen.
Sie wußte, daß es heute ihr Lieblingsessen gab — wenn sie nur an Rehbraten dachte, lief ihr schon das Wasser im Mund zusammen. Rehbraten mit Kartoffelklößen und Preißelbeeren! Die anderen saßen bestimmt schon bei Tisch und ließen es sich gut sein. Um sie kümmerte sich niemand. Dabei hatte die Mutter das gute Essen doch für sie zubereitet.
Wieder kamen Isabell die Tränen, aber diesmal schluckte sie sie ganz rasch hinunter. Sie wußte schon seit Jahren: Weinen, wenn niemand zusieht, hat wenig Sinn.
Sie glaubte ein Geräusch zu hören und lauschte wieder. Aber kein Schritt näherte sich ihrer Tür.
Isabell holte tief Luft. Und da es wenig Sinn hat, sich selbst etwas vorzuschwindeln, gestand sie sich heimlich: In diese Lage hatte sie sich selber gebracht; also mußte sie auch selber sehen, wie sie wieder hinauskam. Mit einem Ruck warf sie ihr Haar in den Nacken, öffnete die Tür, ging rasch und entschlossen zum Eßzimmer.
Als alle Blicke sich auf sie richteten, wurde sie doch ein bißchen rot. Aber sie tat, was sie sich vorgenommen hatte. „Was?!“ rief sie erstaunt. „Ihr eßt schon? Warum habt ihr denn nicht auf mich gewartet?“
Alle lachten, und gerade das hatte Isabell erreichen wollen. Sie lachte mit.
„Komm her zu mir, Kleines“, sagte der Vater, während die Mutter schon dabei war, ihren Teller zu füllen, „sicher hast du mir etwas zu sagen, nicht wahr?“
„Entschuldige, bitte, Paps“, sagte Isabell mit reuiger Miene, „ich glaube, ich habe mich furchtbar blöd benommen.“
„Das kann man wohl sagen!“ Dr. Grunert gab seiner kleinen Tochter einen zärtlichen Kuß. „Hauptsache, du bist doch noch zur Einsicht gekommen!“
„Ja, Paps!“ Isabell setzte sich auf ihren Platz und begann mit gutem Appetit zu essen. „Ich hab’ mir überlegt“, sagte sie mit vollem Mund, „schließlich kann ich mir das Radio grad so gut zu Weihnachten wünschen …“
Dem Vater verschlug es die Sprache, Bernd lachte.
„Isabell, du bist unverbesserlich“, sagte Elke.
„Ich meine, wenn ich mir nur das eine wünsche und sonst gar nichts, dann …“
Dr. Grunert hatte sich wieder gefangen. „Ein für allemal“, sagte er energisch, „ich will von nun an kein Wort mehr über diese blödsinnige Radioangelegenheit hören, sonst … sonst stifte ich alle Geschenke, die du heute bekommen hast, einem Waisenhaus!“
Isabell hatte eine Entgegnung schon auf der Zunge, aber sie schwieg wohlweislich. Sie spürte doch, daß sie zu weit gegangen war.
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