Sie fand es selbstverständlich, dass das Zinzilein gleich das neue Muster abhäkeln musste — jetzt, am Sonntag mittag, und eine Stunde vor dem Essen! Und sie fand es durchaus natürlich, dass dies auf einem Platze hinter dem Vorhang des Fensters nach dem Gartenhaus hin geschah, an dem das Zinzilein sonst nie sass. Dabei blühte das Zinzilein wie eine Malve und war von weltumarmender Glückseligkeit. Und weil Tante Veronika wusste, dass solch ein Glück als Geheimnis tausendmal schöner ist, merkte sie von den musizierenden Engeln, die das Zinzilein umtanzten, gar nichts.
Nach einiger Zeit ging die Gartentür — da stürzten sich alle anwesenden Engel dem Mädel ans Herz und läuteten damit, dass ihm angst und bange wurde.
In der schönen Zeit dieses Jahres schlossen sich Herr Matthias Prinz und Jockele innig aneinander, wiewohl der Forstgehilfe beinahe noch einmal so, alt war als sein junger Freund. Sie waren fast an jedem Tage beisammen.
Weil Matthias keine Gelegenheit vorübergehen lassen durfte, die sehr umsichtig befestigte alte Dame zu erobern — und wenn sie mit Ketten an den Himmel gebunden wäre! —, so machte er dem Jungen die Waldgänge zu fröhlich angeregtem Unterricht vor der Natur. Darüber wurde alles Glanz an dem, und er lief in seine ersten Jünglingsjahre, als wäre er der Blütenzauberer Frühling selber.
Das Ebenmass seines Wachstums geriet um diese Zeit, die zwischen den Zeiten steht, ein wenig in Unordnung, und die Glieder baumelten manchmal in der Welt herum, als wüssten sie nicht, was sie schlagen sollten. Das Zinzilein aber sagte in belustigter Uebertreibung, Arme und Beine hingen um ihn wie langgereckte Fragezeichen.
Aus dieser Erkenntnis des Zinzilein erklärte er sich die merkwürdig fremden Augen, mit denen das Mädchen nun manchmal an ihm herumsuchte, als gingen sie Rätsel raten. Und es trat auch sonst eine Veränderung in ihrem Wesen ein; früher machten sie oft einen Ringkampf, zu dem sie ihn sogar herausforderte — jetzt wies sie das als eine ganz unmögliche Sache von sich, und er hatte doch gerade so grosse Lust dazu. Früher war sie ein Kind gewesen wie er, nun war sie über Nacht ein Fräulein geworden und war voller Geheimnisse. Früher sah man ihr an, dass sie das Leben des Jungen in allen Stücken zu dem ihren machte jetzt wusste sie nicht einmal mehr in seinem „Laboratorium“ in der Gartenhütte recht Bescheid. Und die natürlichste Sache von der Welt — nämlich dass sie der Jockele heiraten würde — schien ihr auf einmal ein kindischer Spass, und sie lachte ihn aus. — „Davon verstehst Du noch gar nichts!“
Einmal des Abends, als die sammetweiche Sommernacht durch die Fenster ins Zimmer stieg, trat auch das Zinzilein herein, und seine Augen flogen vor ihm her wie Leuchtkäfer; da nannte sie der Jockele „ein merkwürdiges Stück Naturgeschichte“.
Er erzählte Tante Veronika, was er die Tage her von Herrn Matthias gelernt hatte, und das Zinzilein wurde darüber ganz Andacht.
Des anderen Tages ging sie selber mit ihm in den Wald, und da musste er ihr jede Seite des leuchtenden Sommerbuches umschlagen und musste vorlesen, was darauf geschrieben war — nicht nur von den Arten der Blumen und Bäume und des vielerlei Getiers, sondern auch von der Forstwirtschaft wollte sie hören. Sie war fast fürchterlich in ihrem Wissensdrange.
Da sagte Jakobus, sie solle nur einmal mitkommen, wenn er mit dem Herrn Matthias ginge. Aber das Zinzilein lachte ihn für diesen wohlmeinenden Vorschlag aus, und dies Lachen schlug einen Laden an seiner Seele auf, und es brach eine Fülle neuen Lichts in ihn. Ein Gedanke sprang ihm klingend ins Herz — da ward dies Herz voller Ahnungen. Das Zinzilein aber bückte sich rasch und strich mit der Hand über das grüne weiche Waldmoos ..
„Polytrichum commune, Goldhaar,“ sagte ihr der Jockele.
„Weisst Du das auch von dem Herrn Prinz?“
„Nein. Alles soll ich von dem Herrn Prinz haben! ... Warum bist Du denn so rot geworden?“
„Weil Du so grausam gelehrt bist,“ log das Zinzilein.
„Es wäre auch ein Name für Dich, Prinzessin Goldhaar!“ scherzte der Jockele.
Da wurde aus dem Zinzilein eine ungeheure blutrote Verwirrung; denn dieser Junge sprang ihr mit dem goldenen Wortspiele vom Prinzen und der Prinzessin mitten hinein in das Allerheiligste ihres Herzens, und es fehlte nicht viel, so ertappte er sie über heimlichem Opfer.
Das Herz des Zinzilein schlug sich allgemach in das vorige Gleichgewicht; sie war aber kurz angebunden, und ihre Gedanken stolperten umher wie die Libellen mit den blauen und glasgrünen Flügeln.
Von diesem Tage ab wurde das Verhalten Jockeles zu dem Herrn Prinz ein wenig anders. Aber nicht etwa respektloser, weil er hinter ein Geheimnis gekommen, oder gar misstrauisch, sondern es wurde ein bisschen verwandtschaftlich.
Der Himmel mochte wissen, wer dem Forstgehilfen das Märchen von der Prinzessin und dem Prinzen erzählt hatte — genug, er kannte es.
Danach kam er eine ganze Woche nicht ins Frühlingshaus, weil er in einem sehr fernen Forste Vermessungen vorzunehmen und Arbeiten zu überwachen hatte — aber am nächsten Sonntag, als schon die Mittagsglocke über das Dorf läutete und der Jockele ahnungslos von irgendwo aus dem September kam, nahm ihn die Mali gleich an der Haustür in ihre Hände. Ihre Augen fielen ihn an wie zwei Sonnen, und sie zog ihn eilig in die Küche und war gar nicht bei sich.
„Der Herr Prinz ist drinne!“ zischte sie ihn an. „Er will das Zinzilein heiraten — alleweil sagt er’s der Tante!“
„Hab ich längst gewusst!“ sagte Jockele so von oben herab, fiel aber gleich aus der Rolle, fasste die Mali unter und wirbelte sie ein paarmal durch die Küche. Dann gingen sie auf den Zehen, horchten manchmal ein bisschen durch den Türspalt und wisperten miteinander wie die Goldhähnchen im Winterwalde — alles als gäbe ihnen eine dunkele Ahnung ein: sie beide müssten nun zusammenhalten, da das Frühlingshaus langsam zu vereinsamen begann.
Auf diese losgelassene Freude kam ein Augenblick, der wäre beinahe sehr feierlich geworden: die Tante trat in die Küche und sagte, der Herr Matthias Prinz speise heute bei ihnen zu Mittag; dann führte Veronika den Jockele in das Zimmer, das ganz voll Gold und Glück und weisser Vorhänge war — „Jakobus,“ begann sie und gedachte in sehr schönen Worten von einer grossen Freude zu reden. Aber das dauerte dem Jakobus zu lange, da ging er ihr durch und stürzte den beiden ans Herz.
So hatte Herr Matthias Prinz das Wachstum dieses Jahres unter Dach, ehe die Welt von Nebeln eingewoben wurde — wie sich das für einen vorsichtigen Liebhaber schickt.
Tante Veronika, obwohl sie niemals in himmelblauer Verlobungsseligkeit herumgeflogen und darüber hinaus von dem anderen Geschlechte so gründlich stehen gelassen worden war als möglich, kam dennoch nicht auf den Einfall, es diesen einen entgelten zu lassen und ihn in Entsagungen zu üben — nur auf Delikatesse hielt sie und bestand darauf, dass „solche Sachen“ nicht zum Ansehen für andere gemacht seien. Wodurch aber nicht verhindert wurde, was sie beabsichtigte — nämlich, dass der lange schöne Knabe Jakobus die Vorstufe zu einer raschen und gründlichen Liebesschule durchmachte. Wäre der Lehrstoff weniger delikat zum Vortrage gelangt, so hätte Jockele vielleicht nicht die nötige Anteilnahme aufgebracht und wäre davongelaufen. Aber dieser Herr Prinz war in allen Stücken von einer so vorbildlichen Ritterlichkeit, dass der Junge während des Winters feststellte: Matthias der Prinz und Prinzessin Zinzilein wären einander durchaus würdig, und das Mädel in seiner sonnigen Blondheit wäre nun noch viel schöner geworden ... Lauter Dinge, an denen der Jockele so viel herumzudenken hatte, dass er denselbigen Winter in der Folgezeit einmal „die Auferweckung des Jakobus“ genannt hat.
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