Er warf den Pinsel hin und verlor sich mit seinen Gedanken wieder in das letzte Scheinen, das noch ferne stand.
Es waren nun Wolken in wunderlichen und wilden Bildern über den Saum der Erde gekrochen und frassen den königlichen Glanz. Endlich waren nur noch zwei Oeffnungen in der Finsternis. Durch diese konnte man hineinsehen in glutrote Weiten ...
In diesem Augenblicke zerriss ein schwarzer Vorhang vor einer Kammer seines Herzens, und was ihm kein Mund eines Menschen erklärt hatte, ging in seiner Seele auf als eine rote stille Flamme: er erriet ein Stück der Götterlehre der Germanen, die von den Gipfeln dieser Berge, so wie er jetzt, durch die Türen des Himmels geschaut und ein machtvolles Wandern von Gestalten gesehen hatten, die dort in einem grossen Lichte gingen. Und weil die Vorfahren noch nichts von der Welt kannten, als was sie mit ihren Sinnen erfassten, deuteten sie sich das Gesehene und sagten: es ist das ewige Leben in jenem grossen Leuchten, und sie nannten es Walhall ...
Da fiel der rauhe Ruf des Mädchens Mali in den Sternenflug seiner Gedanken. Es war die Zeit des Nachtmahls, das sehr früh genommen wurde.
Auf seinem Gesichte lag noch der Widerschein des heiligen Feuers. An anderen Abenden nahm er sich mit wissbegierigen Augen gleich beim Eintritt ins Zimmer von den aufgetragenen Speisen einen Teil des Wohlbehagens hinweg, in das sich sein gesunder Jungenappetit hineinzuessen gedachte — heute stand er diesen Dingen gleichmütig gegenüber wie noch nie.
Das Zinzilein, das gewöhnt war, alle seine Begeisterungen und Enttäuschungen mitfühlend zu durchleben, als wär’s ein Stück von ihm, ein grosses Stück, trat gleich ohne anzuklopfen mitten in ihn hinein —
„Na,“ fragte es.
„Ich habe ein grosses Erlebnis gehabt!“ sagte er mit Wichtigkeit.
„Wahrhaftig — es ist noch ein ganz fremder Klang in Deiner Stimme!“
„Ich wünschte, ich könnt’ Euch alles halb so schön sagen, wie ich es gedacht habe! Aber es geht nicht. Wenn ich erzählen wollte, würde es geradeso herauskommen wie der Sonnenuntergangshimmel, den ich zu malen versucht habe. Ich wette, ich habe jedes Licht auf dem Papier, und ist dennoch eine abscheulich schlechte Sache ... es sieht aus wie die bunte Kaffeedecke, als sie das Mädchen Malchen mal abgekocht hatte, und sollte doch der Himmel werden — der herrlichste Abendhimmel, der je über der Erde gestanden hat!“
Er redete da in Worten, wie er sie vordem nie gebraucht — jedes hatte Flügel, und seine Augen hatten den Glanz grosser Sterne.
Dann lockte das Zinzilein Walhalls Entdeckung aus ihm heraus.
Er redete sich darüber in fernschauende Vergessenheit, aber es ward zuletzt doch nur ein Bild ohne den überirdischen Glanz, in dem seine Träume durch die Dämmerung gezogen waren. Das kam auch von der Scheu, vor den prüfenden Blicken der Tante und des Zinzilein alle Hüllen von der Seele zu werfen.
Darüber ward er schweigsam. Das Essen geschah ohne die begeisterungsvolle Hingabe, zu der er sonst imstande war, und er sah aus wie einer, der eine Erscheinung gehabt hat. Er war in der Dämmerung dieses Wintertags in einen neuen Abschnitt seines Lebens gesprungen.
Vor dem Schlafengehen nahm er sich das Zinzilein noch einmal zur Seite und sagte: „Du, das quält mich! Lach’ aber nicht! ... Es ist heute so etwas in mir aufgegangen — weisst Du, gerade wie damals, als die Schauspieler im Dorfe waren ... Wir sassen in dem ganz finsteren Saale, auf einmal rollte der Vorhang empor — es blühte ein schöner Rosengarten dahinter und stand alles in so warmem Lichte ... Jawohl, so ist es in mir gewesen! Zinzilein, sag es mir: ist das die Seele?“
Gott, wie purzelten ihm die Worte klug und unbeholfen über die Lippen!
Aber wenn er das alles hätte Veronika sagen sollen, wär’ es noch reichlich dümmer geworden.
Das Zinzilein geriet an dieser Frage des grossen Erwachens in Herzensnot. Es merkte: der Junge wollte eine sichere Rede hören über Dinge, die ihr selbst bis zu dieser Stunde nur unsichere Gedanken gewesen waren. Wie sollte sie denn das anfangen, ohne sich Jockeles Achtung und Liebe zu zertrümmern?
„Ja,“ sagte sie aus grosser Bedrängnis heraus, „das ist die Seele!“
„Das hab ich mir gedacht,“ sagte er in aufatmender Befriedigung. „Ist Dir das auch so gegangen?“
„Aehnlich wird es wohl gewesen sein,“ lächelte das Zinzilein. „Aber weisst Du, das sind Dinge, über die man erst klug reden kann, wenn man viel älter geworden ist. In der Jugend ist es genug, wenn man weiss, es ist etwas da, das einen von innen so warm und hell anscheint wie die Sonne von aussen.“
Das war das erlösende Wort! Es fiel in den Jungen aus einer grossen Not ihres Herzens, das an diesem Abend jedem seiner Gedanken und Blicke treues Geleit gegeben hatte. Und darum fand sich’s nun so auf Zinzileins Lippen, just wie es das drängende Begehren des Knaben brauchte, das plötzlich an dem Uhrwerke des Lebens herumzuraten begann.
Als der Jockele, der schon seit Jahren allein in der Giebelstube schlief, zu Bett gegangen war, geriet das Zinzilein in ihrer Bedrängnis an Tante Veronika. Die sass in der warmen Behaglichkeit ihres Lehnstuhls, aber als das Mädchen das fremde Geschütz auffuhr, griff Tante Veronika mit der einen Hand nach der Krücke des gelben Stockes, an dem sie nun aus einer alten Familiengewohnheit heraus zu gehen pflegte, und mit der anderen glitt sie so langsam über das Gesicht, als müsste sie sich ein bisschen lächelnde Verlegenheit abwischen ...
Es wurde an diesem Abend länger und gefühlvoller gesprochen als sonst, ohne dass es zu Entdeckungen von grundlegender Bedeutung über das Wesen der Seele gekommen wäre.
Seit dieser Zeit beschied sich Jakobus nicht mehr damit, vorgedruckte Bilder auszutauschen, sondern er suchte Farben und griff nach dem Himmel.
Darüber wurde das Zinzilein von einem grausamen Lachen befallen und sagte: kleine Kinder machten es geradeso — sie langten zuerst nach den schönen goldenen Nägeln des Firmaments, dann aber spielten sie mit Steinen und schlechtem Sand! Ob denn auf der Erde nicht etwas wäre, und nicht so voll von unmalbarem innerlichen Glanze wie die Wunder des Himmels? Sie könnte ihm zwar weiter nichts helfen als sehen ... „Guck,“ sagte sie, „da steht draussen der Zaun aus lauter braunen Stänglein, steht vor dem blauen Tuche des Himmels und hat sich so viele kleine Mützen aus frischem Schnee aufgesetzt ... könnte man das nicht malen?“
Himmel, was solch ein grosses Mädchen für herrliche Einfälle hat! — Da war das Zinzilein schon aus dem Gartenhause gesprungen, kam aber gleich wieder, schwang ein blaues Papier und sagte: die Sache wäre einfach genug — er brauchte den Himmel nicht einmal zu malen; denn da wäre er schon!
Die Tante lobte ihn danach mit Massen und sagte: wenn er hundert solche und ähnliche Dinge vor der Natur weggenommen, werde er grosse Geheimnisse entdecken. — Das war ein Rätselspruch von der Art jener, die die verschleiernde Kunst der Pythia geliebt hatte! Einer, der vor einem grossen Werke steht ohne den heiteren Glauben an seine Kraft, kann sich darüber verbluten.
Das Zinzilein verlangte mehr Lob für den Jockele, aber Tante Veronika überhörte das gute Wort gänzlich.
Die beiden letzten Schuljahre des Jungen wurden von ihr sehr ernst genommen, die Naturgeschichte und Malerei schienen dabei geflissentlich übersehen zu werden und blieben für die Sonntage und die Ferien.
Veronika hatte auch eine lateinische Grammatik ungemein ehrwürdigen Alters unter ihren Büchern entdeckt, die war voll Genusregeln von klappriger Enthaltsamkeit des Geschmacks und Geistes. Dazu ein Uebersetzungsbuch von Ostermann für Sexta, das bibliophilen Wert hatte; denn es war eines der ersten Exemplare der ersten Auflage und trug eine vergilbte Einschrift des Verfassers für den Vater der Tante Veronika.
Читать дальше