Sie blieben in dieser Nacht im Forsthaus, und am Morgen wusste der Jockele, warum ihn das Zinzilein manchmal mit so rätselhafter Lustigkeit ansah, hinter der immer ein sehr grosses und sehr leuchtendes Ausrufezeichen stand. Sie schliefen in den Zimmern im oberen Stockwerk, und ihre Betten standen Wand an Wand. Der Hochwald hauchte die Kraft durch die weiche Nacht, die die Kerzen zur Frühlingsfeier aus den schwarzen Tannen treibt, und irgendwo unter den Fenstern brach ein Brunnen aus dem schwarzen Stein und flüsterte der Nacht wunderliche heimliche Reden ins Ohr. Als Jakobus an das Fenster trat, hauchte ihn die Südwand des Zimmers mit einer süssen Schwüle an, dass er erschrak; denn es war, als legte Maria Reh die Arme um ihn.
Er löschte das Licht, das ihm das Zinzilein aufs Zimmer gebracht hatte. Die blaue warme Finsternis tat ihm wohl — und da merkte er, das Zinzilein hatte die Rätsel seiner Augen schon erraten, ehe er noch wusste, dass sie darin waren. Aber nun, in der Stille dieser Waldnacht, nun war das Wunder da: er sah in der Finsternis! Es stand ein hohes blondes Frauenbild vor ihm, reif wie ein Aehrenfeld im Sommer, wenn der Duft von gebackenem Brote über die wogenden Halme zu schwimmen beginnt, und Maria Reh war schön wie eine Königin. Er blieb immer in der Nähe der Wand, in die des Tages die Sonne gesickert war, und fühlte den warmen fremden Odem ... Mitten darin stand Maria Reh in ihrer leuchtenden Ueberlegenheit und zog ihn an sich und küsste ihn mit ihren roten Lippen auf den Mund. „Was bist Du für ein lieber stolzer Junge,“ sagte sie. — „Stolz?“ fragte er. „Wissen Sie denn nicht, dass ich immer so vor Ihnen knien möchte wie heute an dem warmen Waldhange, wo der Wachtelweizen in tausend blauen Lichtern brannte? Und wissen Sie denn nicht, dass ich Ihr Edelknabe bin, Sie liebe, liebe blonde Königin?“ Da hörte er ihr klingendes Lachen, und sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küsste ihn auf die Stirn ...
Ueber dem Kusse schloss er die Augen und fühlte ihn hinabrinnen als ein wundersames himmelfremdes Glück bis in sein Herz.
Und er ward durstig nach dem blutroten Leben ihres Mundes — aber er dachte nicht daran, sie zu küssen, sondern sie musste es sein, die sich über ihn beugte und ihm aus der Gnade ihres Königinnentums reichte, wonach er so sehnsüchtig war ...
So sahen die Verheerungen aus, die dieser jubilierende Maitag in Jakobus Sinsheimer angerichtet hatte. Weit über die Mitternacht hin schwamm er in einem rosenroten Meere von Seligkeit ... Auf einmal wachte er auf — der Morgenhahn warf seinen Ruf wie eine goldene Lanze durch das Fenster! Jockele erwachte sehr nüchtern; er hatte sich in den Schlaf gefreut; denn er dachte, der Traum würde die Fäden noch viel schöner weiterspinnen, die er ihm in die Hand gegeben. Nun hatte ihn die Nacht darum betrogen.
Aber die falterleichte Jugend, als sie die Wipfel so voll klingender Sonne sah, brachte sein Herz gleich wieder zum Fliegen.
Er schritt leise die Treppe hinab und fand Zinzilein und Matthias schon draussen beim Morgenkaffee unter der grossen Buche. Im Zimmer Marias war der Vorhang noch vor das Fenster gezogen.
Jockele hatte nichts dagegen, dass Matthias gleich donach das Gewehr umhängte und in den Wald ging; denn nun nahm er des Schwagers Platz ein, weil er von da aus das Fenster an Marias Zimmer immer im Auge haben konnte.
Das Zinzilein belustigte sich in aller Heimlichkeit ganz ungemein.
Es war ein blanker Morgentisch gedeckt, wie es zu den hellen Herzen und der Welt voll Licht passte, und als Maria Reh — schon fix und fertig — endlich den Vorhang zur Seite zog, flogen ihr die sehnsüchtigen Augen des Jungen ans Herz. „Na, da ist sie ja!“ jubelte das Zinzilein, und Jockele wurde ganz stolz, weil sie seine Schwärmerei gemerkt hatte und doch in der Ordnung zu finden schien. Man plätscherte noch eine Viertelstunde in Lachen und Sonne, dann segelten die beiden auf ihrem glückhaften Schiffe davon.
Jakobus war nach dem Erlebnisse vom Abend zuvor wie verwandelt, gestern war er ein Malschüler gewesen, heute war er ein glückseliger Page.
Maria Reh liess sich seine scheue Liebe gefallen und hätte nicht das geringste einzuwenden gehabt, wenn sie etwas weniger ungefährlich gewesen wäre. Sie war nun auch viel sanfter zu ihm; denn sie sah, der Junge war ganz von sich, und diese erste Jugendschwärmerei fiel über sie wie der Duft einer Blume, die ohne Gift ist.
Mittags, als sie wieder an dem Hange ruhten, über dem der Wachtelweizen mit den himmelblauen Spitzen seiner Stengel als ein sonnenstiller See blühte, strich Maria mit ihrer Hand über sein Gesicht; da lehnte er den Kopf an die Erde und liess ihre Stirn so über sich kommen und sah seinem Glücke tief in die Augen. Dann sagte er: „Ich bin sehr froh, dass Sie so lieb zu mir sind!“
„Sind das Zinzilein und Fräulein Veronika nie so gewesen?“ fragte sie aus ihrem wissenden Herzen heraus.
„Aber das ist doch etwas ganz anderes, Fräulein Maria!“ Und er erfasste ihre Hand und legte sie über seine Augen.
Weiter geschah auf diesem langen, langen Frühlingsgange nichts, aber als sie in der Dämmerung nach Hause kamen, waren sie beide ganz still geworden, und Maria sagte sehr weich und mitleidvoll zu ihm: „Auf morgen — nicht wahr?“
Da küsste ihr der Junge die Hand und ging mit gefährlich feuchten Augen von dannen.
Sie sahen sich nun an jedem Tage. Jockele sass neben ihr im Walde und zeichnete, was sie ihm aufgab. Des Morgens suchte er sie stets mit scheuer Freude: denn vor Nacht war sie immer in so königlichen Bildern um ihn, und dann liess er sich von ihren sachten Händen in den Schlaf streicheln.
Sie fühlte auch, was sie ihm war, und war darum auf der Hut vor sich selber, damit der Glanz nicht von ihr abfiel, den seine erwachenden Sinne um sie träumten.
Er hätte am liebsten gehört, wenn sie ihn „Du“ genannt hätte, aber die Scheu, sich lächerlich zu machen, hielt ihn davor zurück, es ihr zu sagen; wenn er in den heimlichen Stunden zwischen Schlaf und Wachen mit ihr allein war, musste sie es doch machen wie er wollte!
Ueber allem befiel ihn ein ruheloser Eifer, ihr mit seinen Zeichnungen zu gefallen. Sie lobte ihn leicht und oft; das hatte ihm zuerst wohlgetan; dann peinigte es ihn; denn er dachte, es wäre eine unverdiente Gefälligkeit. Er sagte ihr das auch einmal und verstimmte sie damit; das dauerte drei Tage, und am vierten ging sie zu einer Stelle im Walde malen, die sie ihm nicht verraten hatte. Da geriet er in eine qualvolle Unruhe, lief den ganzen Tag im Walde herum und war heilsfroh, als er sie gefunden hatte. Aber die Abende, in denen er sich ihr ans Herz träumte, waren seit einiger Zeit nicht mehr so wonnevoll wogend und rosenrot, und sie wurden es noch weniger, als sie eines Tages an ihrer Bluse auf dem Rücken einen Druckknopf nicht geschlossen hatte. Wenn sie vor der Staffelei stand und sich ein wenig zurückbeugte, sperrte sich diese Stelle des Verschlusses immer auf und liess ein Stück Spitze ihres Hemdes sehen.
Das peinigte ihn; denn es stimmte gar nicht zu den königlichen Bildern seiner Frühlingsträume. Er arbeitete mit heisserem Eifer, um Maria vor seinen törichten Augen zu schonen. Aber immer wieder blitzte das schmerzende Weiss in seine Arbeit — da nahm er den Feldstuhl und setzte ihn so, dass er ihre Rückseite nicht sehen konnte, und begann eine neue Zeichnung.
Einige Tage später war der Druckknopf wieder offen. Da sagte er zu ihr, er könne diese Bluse nicht leiden. Sie redeten eine Weile in scherzendem Ernste, und weil sie so überlegen tat, wehrte er sich —
„Jawohl, nicht leiden, weil immer ein Knopf daran offen ist!“
„O weh,“ sagte sie lachend, „und das haben Sie gesehen und haben ihn nicht zugedrückt?“
Sie fand also dabei gar nichts. Aber sie ahnte auch nicht, dass ihr grosses Licht in seinem Herzen darüber zu einer matten Sonnenscheibe geworden war. Dann knurrte er ein bisschen vor sich hin, und sie redeten danach einmal vom Wetter und dass der Herbst schon so unfreundlich durch das Gebirge kroch.
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