Um diese Zeit lief der Jockele den Dorfjungen aus den Händen. Es war ein so kümmerliches Blühen des Geistes und Herzens um sie, und sie rochen nach Leim und Stube — was soll einer damit anfangen?
Das alte Fräulein, das nun ganz weisse Scheitel hatte, hielt alles Leben im Hause weiter in ihren sicheren Händen. Manchmal gab es eine freundschaftliche Unterredung über den Jockele mit dem Zinzilein; denn dieses war nun ein ‚Fräulein‘ geworden, litt an einer verzärtelnden Liebe zu dem Jungen und dachte, es müsse den ‚Kleinen‘ aus der tiefen Hingabe ihres Herzens heraus noch beraten wie damals, als er im Kittelchen in der Sandgrube Kuchen buk. Mit solch mütterlichem Behaben drohte sie oft die ganze Pädagogik der Tante über den Haufen zu werfen.
„Du musst nicht meinen, Du hättest ein Mädchen vor Dir,“ sagte dann die Tante; „ein Junge, der unter der ängstlichen Fürsorge von lauter Frauen aufwächst, läuft Gefahr, unter die Räder des Lebens zu kommen. Ich habe es deshalb von frühester Kindheit mit dem Jockele anders angefangen als mit Dir. Ein Junge muss einmal in der Welt stehen und muss sich ein Stück dieser Welt erobern können.“
Die Dorfschule reichte für den Jungen längst nicht mehr zu. Tante Veronika spannte ihn immer eine Stunde des Tages noch zur Fahrt durch das Reich ihrer Bücher ein. Sie hatte sich da einen klugen Plan zurechtgedacht, und weil sie selbst in allen Werken, die auf dem Regale standen, wohl beschlagen war, ging Jockele willig in dem Geschirr und nahm gegen die alte Dame nicht überhand. Als er auf einen Physikband verfiel, richtete er sich in dem Gartenhause, das aus Stein war und ein Fenster hatte, und in dem es sich sehr traulich lebte, eine Werkstätte zu allerlei Hantierung ein.
Einmal baute er wochenlang an einer Lokomotive, eine Konservenbüchse musste dabei die Rolle des Dampfkessels übernehmen. Danach galt es, ein Flugzeug zu erdenken, natürlich von so kühner Bauart, wie sie den Fachleuten noch nie eingefallen war. Und als er aus einem Automaten eine apfelgrosse Weltkugel erstanden hatte, die mit Schokolade gefüllt gewesen war, hing er sie an einem Faden an die Decke des Gartenhauses, und die Frauen mussten kommen und sich die Sache ansehen. Das Fenster stellte die Sonne vor, und Jockele löste an der im Raume schwebenden Erdkugel der Mali das Geheimnis von Tag und Nacht. Zur grösseren Anschaulichkeit hatte er die Schattenseite ein bisschen mit Ofenruss angestrichen.
Er hatte in dem Gartenhaus überhaupt hundert Dinge aufgestapelt: wunderlich gewachsene Hölzer, die die Form von Köpfen hatten, der er dann immer ein wenig nachhalf, bis die Mali sich vor ihnen entsetzte; dazu Versteinerungen, sauber aufgespannte Schmetterlinge, die sich in einem Kasten mit einem Glasdeckel befanden, und zu denen er nach den Büchern der Tante die Namen geschrieben hatte; Raupenhäuser, in denen er den Wandel der Würmer zum Falter beobachtete; ein Fischglas und ein Terrarium mit Eidechsen, einer Blindschleiche und einer Ringelnatter.
Damit die Bergwinter seinen Eifer nicht unterbrachen, war der einzige Raum des steinernen Gartenhäusleins auch mit einem kleinen Ofen versehen worden.
Je mehr er in das betriebsame Jungentum hineinwuchs, desto sicherer entglitt er den Einflüssen der sehr sanften Mädchenhaftigkeit, mit denen das Zinzilein um ihn war.
Tante Veronika bemerkte das mit Genugtuung; denn das Behaben des Zinzilein zu dem Jungen war ganz voll von der Rätselhaftigkeit der Liebe, die in ihrer Masslosigkeit gar nicht anders bezeichnet werden kann als hingebungsvolle Eigensucht. Es schien fast, als vereinsame das Zinzilein über seiner Liebe zu dem Jungen, weil er nun so von ihr fortwuchs.
Sie sagte das Veronika auch. Aber die Tante blieb bei ihrer wunderlichen Ansicht: das müsse so sein. Im übrigen liess sie sich auf Erklärungen nicht ein, hütete sich dem Jungen gegenüber ängstlich vor aller Schulmeisterei und sorgte dennoch, dass sie ihm an der Hand ihrer Bücher von Zeit zu Zeit ein neues Wissensgebiet erschloss. Er ging auf alles mit begieriger Freude ein, aber von der Sorge, die Veronika in dieser Zeit des flüggen Jungentums am meisten beschäftigte, sagte sie dem Zinzilein gar nichts. Und dennoch schlief die Sorge nie ganz ein, es möchten sich eines Tages an Jockele vererbte Eigentümlichkeiten zeigen, denen gegenüber alle Erziehung und Liebe ohnmächtig wären. Aber diese Bangigkeit nagte nicht an ihr und quälte sie nicht; denn sie war ihr in Wahrheit gegen ihre Ueberzeugung gekommen in einer Zeit, die ganz voll war von der Mechanikerweisheit der Vererbung. Und dafür fand sie zu ihrem Erstaunen eines Tages auch bei dem Menschheitslehrer Goethe eine Belegstelle — „Man könnte erzogene Kinder gebären, wenn die Eltern erzogen wären ...“
Darüber geriet sie von neuem ins Raten. Aber trotz aller Mühe, die sie sich gab, konnte sie diese Verse nicht ganz zu ihrer Ansicht umdeuten, dass eine in allen Stücken vollkommene Erziehung die geistige und sittliche Verfassung eines Menschen aller Vererbung zum Trotze bestimme.
Tante Veronika hätschelte den Gedanken solchen unerkannten Königtums der Erziehung mit eifersüchtiger Liebe als die köstlichste Erkenntnis ihres Lebens — und nun wälzte ihr gar Johann Wolfgang einen Fels in den Weg! Zwar: er setzte damit auch der Erziehung eine der vielen Kronen auf, die seine königliche Hand zu vergeben hatte, aber ... Und dies Aber blieb stehen und rumorte in Winkeln ihrer Seele herum, die Jahrzehnte in wundervoller Sonnenruhe gelegen hatten.
Doch — eine sechzig Jahre alte Dame lässt sich schwerer umstimmen als ein sechshundert Jahre altes Klavier. Und das war in diesem Falle ein grosses Glück.
Wunderlicherweise war es das Zinzilein, das die Frage zuerst aufwarf, was einmal aus dem Jockele werden solle. Das kam daher, dass der Gedanke in dem Mädchen Wurzel geschlagen hatte: ein Junge müsse geschickt werden, sich ein Stück Welt zu erobern. Wie er das in Ibenheim anfangen sollte, war nicht leicht zu denken.
Tante Veronika war in diesem Falle von einer unerforschlichen Sorglosigkeit und sagte:
„Zuerst und vor allem muss er ein Mensch werden. Es ist falsch, einen Jungen für einen Beruf zu bestimmen, weil er im Spiele diese oder jene Neigungen zeigt. Solche Neigungen sind wichtig, aber es geht nicht an, darin in verliebtem Stolze gleich einen Weg fürs Leben zu erkennen.“
Das Zinzilein meinte, Naturforscher wäre für den Jockele das Richtige, und dachte sich etwas ganz Närrisches dabei.
Eines Wintertags, als alle Quellen des Lichts aus dem geschliffenen Späthimmel brachen und es aussah, als wäre die Himmelsglocke zertrümmert worden, weil der Sonnenball, siebenmal grösser als sonst, in seiner leuchtenden Majestät anders nicht hätte durch die Tore ziehen können, schlug der Jockele seinen Farbekasten auf und pinselte das königliche Spiel des Verleuchtens auf ein weisses Papier. Er sass am Fenster des Gartenhauses, sein Tisch war eine alte Hobelbank, an der in grauen Zeiten Tante Veronika ihre Rosenpfähle selber zugerichtet und grün angestrichen hatte — da fiel das gewaltige Flammenwerk des Himmels in seine jauchzenden Augen. Er wusste kaum, was er tat — es war ihm, er stünde davor mit hoch, hoch emporgestreckten Armen und wäre ganz nackt; denn alle Armseligkeit des Irdischen fiel darüber von ihm ab — und hätte ein Schauen in eine andere Welt. Aber er sass doch an der braunen Hobelbank, inmitten tausend kleiner Dinge, die er dem Alltag aus den Händen genommen, und strich in Selbstvergessenheit die Farben auf das Papier.
Und dann war es ein recht armseliges Machwerk geworden — es fehlte darin kein Licht, aber es fehlte das Leuchten ... Die Himmelsfreude seiner Augen war ausgelöscht auf der Spanne Weges durch den Pinsel! Darum sah sein Sonnenuntergang so verbrecherisch aus, als hätt’ ein Dorfjunge, der dem Puppenmaler zugesehen, einen Haufen farbiger Kreidestücke an der schneeweissen Haustür der Tante Veronika probiert. Scheusslich!
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