Jockele, der sich ausrechnete, dass dieser Vater um jene Zeit gut hundertzwanzig Jahre hätte zählen können, ahnte beim Anblick der greisenhaften Würde des Buches zum andern Male seine Seele — diesmal in einem fröstelnden Erschauern.
Dann kam über die alte Dame eine fast heftige Betriebsamkeit im Latein. Gleich zu Anfang aber forderte der Junge Frist zu einem Privatschnaufer der Verwunderung, weil die Tante das nun auch noch konnte. Allein, sie gestand ohne Umschweise, dass es mit ihrem Latein hapere. Doch — das kannte der Jockele! Nichts als übertriebene Bescheidenheit! Und er war geneigt, jede Wette einzugehen, dass der Professor Sinsheimer, der an dem gelben Krückstock durch die Strassen Bremerhavens gestabt und dessen Werk die Tante Veronika war, an ausbündiger Gelehrsamkeit zugrunde gegangen wäre.
Während dieser letzten Schuljahre stand der Jockele der Grammatik und dem Uebungsbuche mit frostigem Herzen gegenüber, er lernte, weil er sollte, und niemand im Hause wusste eigentlich recht, wozu. Selbst Tante Veronika war froh, als sie dem Jungen erklären konnte, nun sei es mit ihrem Latein zu Ende. Das war an dem Tage, an dem sie die letzte Seite des Ostermanns für Sexta umschlugen.
Danach kam die heitere Ruhe des Frühlingshauses ein wenig ins Wanken, es war ein wunderliches Drängen nach aussen. Zuerst ging die Schulzeit des Jockele zu Ende, und es richteten sich allerlei Fragen steil und nüchtern vor dem innigen Beisammensein auf. Sie forderten die Antwort nicht von einem Tage zum anderen, aber sie schoben bei jeder unpassenden Gelegenheit den Kopf zwischen die drei Menschen und sagten: „Na, wie wird das?“ Und sie wären noch viel hartnäckiger gewesen, wenn das Zinzilein nicht um diese Zeit maienseliger Erdenfreude von einem Forstgehilfen schön gefunden worden wäre. Weil der nicht das Töchterlein des Holzhauers und Puppenmachers Laufer, den er im Walde an die Arbeit zu stellen hatte, sondern das Ziehkind der feinen alten Dame ehelichen wollte, war ihm von vornherein klar, er werde einen heillosen Sturm im Haus aus dem Hügel losmachen, der ihm die grossen Klötzer nur so vor die Füsse wirbelte.
Die erste Betätigung dieser Liebe war das Interesse des jungen Forstgehilfen für den Jockele.
Einmal auf einem Spaziergang, als auf den Waldgrund die braunen Knospenhüllen der Buchen herabschneiten und das brünstige Schauern der Frühlingserde sich an Quellen und Bachsäumen zu Bändern aus Vergissmeinnicht zusammenwob, schlug der Forstmann Matthias Prinz dem Jungen eine Tür auf, durch die er einen Blick in die Ferne tat — so weit hatte er nie sehen können, wenn Tante Veronika vor seinen Augen hinaus ins Leben deutete! Es waren in Matthias einige Erinnerungen aus verlorenen Lateinjahren wachgeworden.
„Siehst Du,“ sagte er zu Jockele, „das Latein, das ich nicht gelernt habe, hat mir die Hälfte meines Lebens verdonnert!“
„Wie denn das?“
„Nun, ich hätte Oberförster werden können und Forstmeister — aber an dem Latein bin ich hängen geblieben.“
„Und wenn einer nicht Forstmeister werden will?“ klügelte Jockele an dieser Rede herum.
„Lern’s. Junge!“ schrie ihm Matthias Prinz ins Gesicht und legte ihm beide Hände auf die Achseln, „und wenn Du’s hundertmal nicht weisst, wozu Dir dies oder jenes nützen soll — raff zusammen in Deinen Frühlingsjahren, was Du kannst, denn es könnte die Zeit kommen da Du Gold daraus schlägst!“ Nach dieser klingenden Rede fragte er kurz: „Was willst Du werden?“
„Ich weiss es nicht. Wenn ich sehr fleissig bin, darf ich mir’s noch drei Jahre überlegen; bin ich faul, muss ich in irgendeine Lehre.“
„Junge,“ sagte Matthias, „das ist ja grossartig! ...“
Darüber waren sie an den Saum des Buchwalds gekommen, an dem die Umzäunung über dem Goldbrunnen dahinlief.
Sie gingen ganz langsam dem Frühlingshaus entgegen, und Herr Matthias Prinz redete sehr laut und väterlich.
Da lugte die Mali aus dem Küchenfenster, was es wäre, und gleich darauf trat Tante Veronika an dem gelben Krückstock heraus in die Sonne. Sie überschüttete die jungen Leute ganz mit der hellen Freude, die immer nicht genug Platz in ihren Augen hatte, und sagte, sie könne dem Herrn Matthias nun endlich danken für die Teilnahme, die er an der Entwicklung des Jakobus zeige.
Herr Matthias Prinz aber redete sehr verbindlich und ehrfürchtig zu der alten Dame, von der alle einsichtigen Leute mit so heillosem Respekte sprachen, und fand sich auch geschickt zu der Behauptung, von der er dachte, sie werde sie am meisten erfreuen. Er sagte, sie hätte den Jockele zu einem sehr klugen und braven Jungen erzogen.
Es lag aber nicht in der Art Veronikas, sich im Sturme nehmen zu lassen. Deshalb begegnete sie der prinzlichen Begeisterung mit einer massvollen und sicheren Liebenswürdigkeit; und als Matthias fragte, ob er bei Gelegenheit einmal in ihr Haus treten dürfe, entgegnete sie: „Ich werde mich darüber freuen; und dann wird Ihnen Jakobus in der Gartenhütte zeigen, wie er lernt, und Sie werden ihm sagen, dass ihm noch viel zu tun übriggeblieben ist.“
Danach reichte sie ihm die Hand und wusste, dass aus diesen drei Minuten die grösste Wandlung in ihrem Hause hervorwachsen würde, die seit dem Eintritt Jockeles darin geschehen war.
Nichts an ihr verriet diese Erkenntnis, aber das Herz des Herrn Matthias Prinz hatte Schwingen bekommen und wirbelte mit ihm hinein in den Frühlingswald — die Finken rührten ihr Schlagzeug, als hätten sie Wachtparade, die Mönchsgrasmücke trug den Schellenbaum, und die wilden Tauber schlugen die grosse Trommel. Und der Herr Prinz — als wär er schon König geworden — bildete sich ein, die ganze Waldmusik hätte der Frühling extra für ihn losgelassen. —
Jockele stand auch über diesen Tag hinaus den Ereignissen mit Unbefangenheit gegenüber. Das Geheimnis der rosenroten klingenden Liebe war für ihn noch nicht erfunden, und er brachte nicht den ahnungslosesten Verdacht auf, dass er von dem Herrn Matthias als Sprungbrett zu einer himmelblauen Seligkeit benutzt würde.
Gesprochen wurde nach Ansicht des Jockele von dem Forstgehilfen im Hause nur dann, wenn er selbst die Rede auf ihn brachte; Tante Veronika hatte mit sehr nachdrücklichen Worten namentlich der Mali alles verboten, was für die Ohren des Jungen nicht passte. Dass Mali und das Zinzilein in dieser Zeit oft recht geheimnisvoll taten, merkte er auch nicht — ein Junge merkt überhaupt nicht viel; er wühlte sich im Gartenhaus mit einer Wichtigkeit in seine Bücher, die er über den anderen Pflichten der Schule nicht einmal geahnt hatte.
Darüber war auch der „Ostermann für Quinta“ beschafft worden, an dem der alte Pastor in Jockeles Gemeinschaft jede Woche drei Stunden sein verblichenes Latein auffrischte.
Als Herr Matthias nach einigen Wochen im Frühlingshause Besuch machte, beschränkte ihn die Tante wiederum für die Dauer von drei Minuten auf das Damenzimmer. Dann begleitete sie ihn vor das Gartenhaus, das Zinzilein guckte durch den Vorhang, und der Herr Matthias Prinz suchte mit seinen Augen über die Achsel der Tante hinweg, ob etwa aus diesem Fenster ein Sonnenschein fiele. Er redete dabei ausgiebig und bezeigte ein grosses Interesse für die Anlage des Gartens.
Veronika war auch davon nicht im geringsten überrascht — wer überhaupt dächte, sie hätte sich von Stund an in die Rolle des schätzehütenden Drachen eingelebt — ha, der würde Fräulein Sinsheimer sehr schlecht kennen!
Sie liebte es, die Augen zu schliessen, um besser sehen zu können, und war dem Zinzilein selbst in den wichtigsten Angelegenheiten der Liebe unbedingt vertrauenswürdig. Wenn der Jockele davon etwas hätte ahnen dürfen, so hätte er gesagt: „Nun versteht sie das wahrhaftig auch noch!“
Tante Veronika hatte gegen die Dinge, die sich nun im Frühlingshause vorbereiteten, nicht das geringste einzuwenden, aber sie wollte alles mit der ihr eigenen Delikatesse behandelt wissen.
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