Durch den tiefsten Bergschnee herüber trug Matthias eines Tages die Nachricht, dass er vom 1. April ab als Revierförster in der Nachbarschaft des Hörselberges bestimmt sei. Natürlich wollte er nicht unbeweibt seinen Einzug in das Waldforsthaus halten — da überkam den Jockele zum ersten Male die Schwäche der Eifersucht, und zwar auf beide, die sich ihm gegenseitig wegnahmen.
Er wäre darüber am Ende in die Unzufriedenheit des Flegeltums hineingewachsen, dem der liebe Gott zur Warnung als äusseres Kennzeichen das schlaksige Unebenmass der Glieder anhängt. Aber die Erziehungskunst der Tante Veronika trieb an ihm eine schöne späte Blüte: sein Takt gegenüber der waldgesunden Männlichkeit des Schwagers behütete ihn vor Entgleisungen.
So focht er den ersten Kampf mit sich und der Welt in der Stille des Gartenhauses aus; er ward einsilbig, er knurrte auch einmal, wenn er durch die Stube wippte, aber er setzte sich nicht dem vereinigten Gelächter der Engel und Menschen aus, die während der Vorbereitungen zur Hochzeit das Haus bevölkerten. Er arbeitete sich um seine offensichtliche Zurücksetzung mit grossem Eifer herum, entschädigte sich durch Erzählungen aus dem Gallischen Kriege des Cäsar, den er um diese Zeit mit dem Pastor las, und hörte mit sieghafter Genugtuung zu, wenn der ritterliche Herr Matthias das Bekenntnis ablegte, dass sein Schiff an dieser Klippe fast wrack geworden wäre.
So war Jockele über allem auf ein Nebengeleise rangiert worden. Da fiel er in der beschaulichen Ruhe seiner Gartenhütte auf eine Verzweiflungstat: er hatte die Schmetterlinge seiner Sammlung gemalt und begann, zu jedem die Naturgeschichte zu schreiben. Es war die erste Arbeit, die er planvoll ausnahm und durchführte. Das Zinzilein, das ihn am liebsten als „Naturforscher“ gesehen, hatte auch Verdienste an seinen farbigen Tier- und Pflanzenstudien, die oft recht hilflos waren. Deshalb dachte er, er wollte dem Zinzilein dies „Werk“ als Hochzeitsgeschenk überreichen; denn er wusste, Prinzessin Goldhaar war mehr als die anderen dazu geneigt, gute Vorsätze als Taten anzusehen.
Mitte März war er damit fertig, und als es der Buchbinder wieder ins Haus schickte, standen sie in diesem Hause gerade vor der Hochzeit.
Die wenigen Tage surrten noch vorüber; dann kam der stürmische 1. April, der das Zinzilein dem Frühlingshaus entführte — Himmel, was war von dieser blonden Mädchenjugend eine Fülle von Sonne gekommen!
Nun, da sie nicht mehr da war, schauerte den Zurückgebliebenen die Einsamkeit fröstelnd ans Herz. Ueberall lagen Erinnerungen: Blätter aus zerfallenen Blüten — das ganze Haus war voll von abgestandenen Festtagen; es war stief und stoppelfeldig in allen Zimmern, und gegen die Fenster stiess der Sturm, klirrte der Aprilregen.
Tante Veronika hatte sich fest zugeschlossen, stabte mit dem gelben Stocke in ihrer Wehmut herum und suchte nach einem liegengebliebenen Sonnenschein. Es war aber keiner da.
Vielleicht lief das alte Fräulein auch dem Gedanken nach, ob sie denn zum zweiten Male ganz verwaisen sollte?
Es ist bei den Jahren anders als bei den Menschen — die Jahre kriegen im Alter das Rennen, und man muss sich bei guter Zeit vorsehen, will man sie nicht davonlaufen lassen.
Jawohl, ganz heimlich dachte Tante Veronika daran, wie sie den Jungen im Hause behalten könnte, ohne dass er an ihrer verzeihlichen Selbstsucht nicht zur vollen Entfaltung seiner hellen Gaben gelangte. Aber sie fasste diesen Glauben nicht mit der alten Festigkeit an, weil ihr das Herz davor bange war. Und diese Bangigkeit verlor sie nicht mehr. Doch brauchte sie nicht lange an der Frage herumzuraten; denn eines Tages stand ein Sturm auf, der dem alten Mädchen am Bergwalde den Jungen aus Haus und Händen wirbelte ...
Zuvor aber kam Maria Reh nach Ibenheim.
Da war der Frühling im vollen Gange und schüttete ein Blühen in die Gärten, dass es über die Zäune lief.
Weil Fräulein Reh zuerst mit dem Mai durch den sprossenden Buchwald gestrichen war, kam sie mit Maleraugen voll Entdeckungen und einem Herzen voll Licht und Himmelblau und trat in das erste Haus, an dem sie der Weg aus dem Walde vorbeiführte.
Darin wohnten die Laufers. Frau Barbara fing sie gleich in dem Netz ihrer Freude und schüttelte die ganze Hochzeit und das Glück des Zinzileins über sie. An diesem Tage nahm Maria Reh die Stube nach dem Wald hinaus.
Als sie am nächsten Morgen mit der Staffelei in die Bergsonne stieg, um ihre Sinne vom wilden Farbendrängen zu erlösen, ward sie von dem Mädchen Mali erspäht. Deshalb schritt bald danach der Jockele von ungefähr des Weges, um zu sehen, was es wäre. Er kroch erst ein bisschen um das Malfräulein herum, und weil er noch so zwischen den Lebensaltern stand, durfte ihn ihre Spätfrühlingsreife ohne Scheu ermutigen. Es wurden ein paar falterleichte Fragen gewechselt — die erste liess Maria auffliegen. Weil sie den Jockele mit „Sie“ anredete, bekam er einen roten Kopf; denn das passierte ihm zum ersten Male. Aber er fand sich alsbald in das erforderliche Auftreten und erwies sich dabei als fertiger Schüler seines Schwagers Matthias.
Am ersten Regentage machte Maria Reh der Tante einen Besuch. Sie trat auch in das „Laboratorium“ und erbat sich den „Herrn Jakobus“ als fröhlichen Malergesellen, nachdem sie seine frischen, aber ungelenken Versuche gesehen hatte.
Einige Tage später, in denen das junge Buchlaub ganz zu Golde geschlagen worden, war aus dem komischen „Herrn Jakobus“ für das Fräulein schon der junge Jockele geworden — manchmal hiess er noch „Sie, Herr Jockele!“ — und er sass neben ihr im Walde und visierte mit dem Zielauge über den Bleistift hinweg die Lage der Dinge, die er skizzierte.
Wieder nach einiger Zeit wanderten sie zusammen in das Forsthaus am Hörselberge. Da nahm auch Maria ihr Skizzenbuch mit und redete von lustigen Malerfahrten beider Herzen in ein weltumarmendes Glück.
Die enganliegende Lebensart im Frühlingshause, die das Werk der Tante Veronika war, fand sich bei Maria Reh nicht. Sie war ein blondes, schlankes Mädchen mit einem Teutoburgerwaldgesicht und einem freien Hals, an dem über dem Blusenausschnitt unter dem Nacken der erste Rückenwirbel kräftig hervortrat; denn er hatte zu tun, den Kopf mit dem klingenden Haar und dem klaren, kühnen Gesicht zu tragen.
Natürlich behauptete Maria, sie wäre viel grösser als Jockele. Als sie einander aber mit entschuhten Füssen und aufgelegtem Skizzenbuch an einem Waldstamme massen, war zwischen den beiden Strichen gerade nur so viel Raum, dass ein Sonnenstrahl hindurchkriechen konnte.
Diese Messung fand auf dem Wege zu dem Berge der Frau Venus statt. Und weil es eine so sonnevolle Waldfahrt war, gelangten sie erst im roten Lichte des Spätnachmittags in das Forsthaus und standen beide über und über in Blüte. Deshalb läutete das prinzliche Paar gleich mit allen Glocken, und das Lachen schoss als goldene Raketen in die Waldnacht vor dem traulichen alten Jägerhause. Dabei wurde festgestellt, dass der Jockele in sechs Wochen um sechs Jahre älter und ritterlicher geworden sei, und er, dem das Haar so wellig und schwarz um die Stirne wehte, hatte die Augen voll feuchten Glanzes.
Das Zinzilein schaute fast erschrocken in dies heisse Licht, das aus einem tiefen Himmel kam. Aber der Jockele sagte: daran wäre die Sonne schuld, die über Tag hineingeronnen, und daran wäre schuld, dass diese Augen nun Dinge zu suchen und zu sehen hätten, von denen das Zinzilein samt seinem jungen Herrn Förster gar nichts ahnte. Er sagte das aus einem gläubigen Jungenherzen heraus; aber das Zinzilein musste doch auf der Hut vor sich selber sein, dass sie ihn nicht für ganz erwachsen nahm und ein bisschen an ihm herumklopfte ... denn auch das Zinzilein war in diesen sechs Wochen gelehrig gewesen und verstand sich auf Männeraugen.
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