Dieser Band entstand aus dem Bedürfnis heraus, zu ergründen, wer wir sind statt wer nicht, und ganz gezielt irreführende Vorstellungen diesbezüglich zu hinterfragen, um letztlich selbst spannendere und anregendere Perspektiven zu schaffen. Die damit verbundene Absicht war es schließlich, hier einige Überlegungen in diesem Sinne zu versammeln, um sich nicht endgültig der Aporie Montales zu fügen: „codesto solo oggi possiamo dirti, ciò che non siamo, ciò che non vogliamo.“6 Denn, um es in den großen Worten Denis de Rougements zu sagen, „per noi europei la vita è continua lotta, e il suo fine non è il benessere, ma la più acuta consapevolezza, la scoperta di un senso, di un significato, foss’anche nell’infelicità della passione o nella sconfitta. [Für uns Europäer ist das Leben ein kontinuierlicher Kampf. Und dessen Ziel ist nicht das Wohlergehen, sondern das tiefe Bewusstsein, die Entdeckung eines Sinns, einer Bedeutung, selbst wenn diese sich im Unglück der Leidenschaft oder in der Niederlage finden würden. (eigene Übersetzung)].“7 Das Leben dieser Überzeugung findet in den täglichen Aufgaben an der Villa Vigoni statt. Dabei übersteigt sie, wie Giorgio Napolitano anmerkte, bloße diplomatische Zwecke und siedelt sich in einer Sphäre des kulturellen Austausches und der Auseinandersetzung zwischen der deutschen und der italienischen Gesellschaft an, von deren Interaktion – heute vielleicht noch mehr als früher – das Schicksal Europas abhängt.8 Aus diesen Beweggründen heraus will dieser Band zweierlei Brücken schlagen: Die Erste ist transnational, mit der Beteiligung von Wissenschafltern und Wissenschaftlerinnen aus Deutschland und Italien. Die Zweite ist transgenerational, durch die Teilnahme an der intellektuellen Debatte verschiedener Generationen, da keine Gemeinschaft ohne eine konstante und konstruktive Dialektik zwischen vergangenen und zeitgenössischen Erfahrungen auskommen kann. Es ist kein Zufall, dass die hier behandelten Themen zum ersten Mal im Rahmen des Vigoni Studentenforums 2019 präsentiert wurden. Bei diesem Seminar versammeln sich jedes Jahr Studierende aus Italien und Deutschland an der Villa Vigoni, um mit verschiedenen Expertinnen und Experten diverse Themen zu diskutieren, die für die europäische Debatte von Relevanz sind. Das Resultat dieses intensiven Austausches waren drei Hauptgedanken, die für die von uns diskutierte Selbstanalyse als unverzichtbar gelten. Davon ausgehend haben sich die drei Kapitel dieses Bandes ergeben: das Gleichgewicht zwischen den Staaten und Nationen in Zeiten der EU, die Bedeutung der Einheit in Europa, unsere Art und Weise die Zukunft zu betrachten. Daran schließt ebenfalls noch ein Manifest für ein vereinigtes Europa an, das von den Teilnehmenden des Forums verfasst wurde.
Im ersten Kapitel wird der Frage nachgegangen, auf welchem Wege Staaten und Nationen in Europa in einem kaleidoskopischen Geflecht zwischen Kultur und Politik weiterhin koexistieren. Dieses Geflecht hatte sich zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert soweit verfestigt, dass jegliches Überkommen desselben unrealistisch werden ließ. „Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist. […] Das Dasein einer Nation ist […] ein täglicher Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist“, schrieb Renan.9 Die europäischen Nationalstaaten sind dazu gezwungen, ihre Rolle innerhalb einer transnationalen und fragmentierten Demokratie zu überdenken. Dieser politische Überbau ist nach Meinung vieler Beobachter die einzige Struktur, die in der Lage ist, das Fortbestehen derselben zu garantieren.10 Im zweiten Kapitel finden sich mehrere Überlegungen zum Konzept der politischen Einheit Europas und darüber, was man unter der Einheit der Völker und deren Schicksale versteht. Bereits in den Nachkriegsjahren betonte eben zitierter de Rougemont die Notwenigkeit für die europäischen Länder, sich eine grundsätzliche Frage zu stellen: Was werden wir nun zusammen tun? Die Dringlichkeit dieser Frage ist heute höher denn je. Der schweizerische Philosoph beantwortete sie bereits 1948 folgendermaßen: „è venuto il momento di fare appello, per questo nuovo destino, a tutti i popoli del continente e di spalancare davanti a loro la visione pacificatrice verso la quale dichiariamo fin d’ora di metterci in marcia: una Europa solidamente federata, al servizio della libertà e degli universali diritti dell’uomo. Su questa uniforme unione l’Europa gioca il suo destino; e con lei lo giocano il mondo e ciascuno di noi“ [Es ist der Moment gekommen, einen Appell im Sinne dieses neuen Schicksals an alle Völker dieses Kontinents zu richten und ihnen die pazifistische Vision zu verkünden, die von nun an unseren Weg bestimmen wird: ein gefestigtes föderales Europa, das im Zeichen der Freiheit und der universellen Menschenrechte steht. Auf dieser einheitlichen Union verhandelt Europa sein Schicksal, und mit ihm verhandelt es auch die Welt und ein jeder von uns.]11 Das dritte und letzte Kapitel hat die Zukunft und die möglichen gemeinsamen politischen Visionen im Blick, die für den Aufbau des europäischen Lebens der kommenden Jahre unabdingbar sind. Diese Beobachtung – nicht ganz frei von einem verblümten Zynismus – machte zuletzt auch Federico Petroni: „Il tempo verbale dell’Ue è al futuro. La peculiarità (lacuna?) del suo mito è di essere in costruzione. Il presente non si dà. Se non come transizione verso un avvenire radioso“ [Das Tempus der EU ist das Futur. Das Merkmal (Schwachpunkt?) ihres Mythos besteht darin, dass sie sich noch in der Selbstwerdung befindet, noch ist sie nicht in der Gegenwart angekommen. Wenn nicht in Form einer Transition hin zu einer glänzenden Zukunft (eigene Übersetzung)].12 Es bleibt jedoch schließlich zu fragen, ob nicht auch das Gegenteil eine möglich Perspektive wäre. Ist es möglich, sich ein Europa vorzustellen, diesen äußersten Rand des eurasischen Kontinents, geokulturell zwischen Meeren und Völkern gelegen, das in der Gegenwart verhaftet bleibt, ohne einen beständigen Blick zum Horizont des Unerreichbaren? Ist letztlich nicht vielleicht die Suche nach dem Unbekannten selbst, bis hin zum Risiko der Verdammnis, unsere eigentliche Natur?
Es wäre überflüssig zu betonen, dass es hierfür keine einfachen Antworten gibt und der hier vorliegende Band nichts anderes beabsichtigt, als die Thematik um weitere Überlegungen und kritische Untersuchungen zu bereichern. Es bleibt jedoch eine Gewissheit, für die die Villa Vigoni ein lebendiger Zeuge sein möchte: Nur permanente Auseinandersetzung, Ideenaustauch und Dialog machen Europa möglich, sodass die offenkundige, ursprüngliche, schöpferische doch im Schatten liegende Kraft von einem Schleier befreit wird, wie ihn Massimo Cacciari beschrieben hat.13
Die Hoffnung ruht darauf, dass dieser Band zur Durchsetzung eines neuen europäischen Bewusstseins beitragen wird, das mit Entschlossenheit den Prozess der Individuation auf sich nimmt. Denn hiervon wird sowohl die zukünftige Rolle Europas in der Welt als auch die Wahrnehmung des Kontinents und das Schicksal jedes Einzelnen abhängen.
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