Im Zentrum dieser Untersuchung, die vom Inneren des Menschen ausgehend Licht ins Dunkel bringen soll, um es mit den Worten des Heiligen Augustinus zu sagen, stehen Europa und die Europäer, die hierbei sowohl als Subjekt als auch als Objekt auftreten werden. Bei diesem Unterfangen bleibt jedoch zu betonen, dass die Individuation weder Marginalisierung noch Isolation zum Ziel hat. Im Gegenteil, sie besteht vielmehr in einer beständigen Suche nach einem individuellen Weg des Selbstverständnisses zwischen einerseits kollektiven Normen und andererseits Abgrenzung von einem Kollektiv. Diese Suche wird sich als lang, komplex und nicht frei von Risiken und unsicheren Ergebnissen erweisen, nichtsdestotrotz ist sie für das Überdauern der europäischen Zivilisation unverzichtbar geworden. Das 20. Jahrhundert war ein dunkles Kapitel für Europa, in dessen Verlauf es auf globaler Ebene auf zweierlei Weise präsent war. Zum einen zeigte es sich als Hauptakteur im negativen Sinne, als Wiege zweier vernichtender Weltkriege; zum anderen als Abwesender, der auf diplomatischem, militärischem oder ökonomischem Weg von den Siegermächten zurechtgewiesen wurde. Insbesondere geschah dies auf westlicher Seite durch die Vereinigten Staaten oder die von ihnen geführten internationalen Organisationen. Unter diesem Schutzschild haben sich die Europäer aus eigenem Willen oder im Unbewusstsein über Jahrzehnte versteckt, während sich das Gleichgewicht der Welt radikal veränderte: Die Berliner Mauer fiel, die Globalisierung führte zu tiefgreifenden Umwälzungen in unseren Gesellschaften, ehemalige Weltmächte gingen unter und neue stiegen auf. Aus Bequemlichkeit lange in dieser Position verharrend und gutgläubig wie das Kind dem Willen des Vaters ergeben, ist Europa nun im jungen Erwachsenenalter plötzlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Dabei sind die Europäer noch nicht ganz von ihren Privilegien entwöhnt und verfügen gleichsam noch nicht über die zentralen Instrumente, um aus eigener Kraft in einem veränderten und chaotischen globalen Kontext zu überleben. Im Sinne der Individuation nach Jung bedeutet dies: Wenn Europa das Individuum ist, das sein eigenes Wesen hinterfragen muss, um die eigene Persönlichkeit zu erneuern, ist die Welt hierbei das Kollektiv, in welchem man sich verorten, wiedererkennen und von dem man sich differenzieren muss. Unter diesen Vorsätzen wird von den hier beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – denen wir an dieser Stelle unseren tiefsten Dank aussprechen – eine kritische Betrachtung des Konzepts der Vereinigten Staaten von Europa gefordert sowie der Notwendigkeit, eben dieses Konzept letztlich auch per se infrage zu stellen.
In diesem vom Infantilismus geprägten Zustand, in dem sich Europa nach dem zweiten Weltkrieg wiederfand, hat eine kleine Gruppe europäischer Staaten im Einvernehmen mit den USA sich auf den Weg hin zu einer politisch-demokratischen, supranationalen Integration gemacht. Für die Europäische Union – einer absoluten Neuheit im Panorama der politischen Systeme und internationalen Organisationen – stellte die Perspektive einer Art Vereinigter Staaten von Europa die einzige wirkliche politische Vision dar, mit der man sich ernsthaft auseinandersetzen konnte. Andererseits bleibt zu fragen, wie ein Kind, das isoliert unter nur einem bestimmten väterlichen Schutzschild aufwuchs, andere Referenzmodelle entwickeln sollte. Dieser Zweifel verdeutlicht sich, wenn eben dieses Kind sich seiner eigenen Zukunft unsicher ist und darüber hinaus nur über die Überzeugung verfügt, was es nicht werden sollte: ein totalitärer Staat und kommunistisches Regime nach sowjetischem Vorbild. Die Vereinigten Staaten von Europa wurden folglich für die Europäer zur kollektiven Vorstellung eines unerreichbaren Ziels; zu einer Idee, der man nie entsprechen würde, da ein Kind seinem Vater nie ganz gleichen kann. Es bedarf folglich einer Bewusstseinswerdung, die unabhängig von unseren Stammvätern ins Herzen Europas statt darüber hinaus blickt. Diese Anstrengung wird immer dann verlangt, wenn man vom eigenen Wege abgekommen ist.
Die Europäische Union befindet sich seit langem in einer Phase der Orientierungslosigkeit und zeigt sich recht konfus bezüglich der eigenen politischen Ziele und Ideale. Eine ununterbrochene Serie von Krisen, sowohl was die Finanzwelt als auch die Migration betrifft, bis hin zur jüngsten gesundheitlichen Notlage, hat die Daseinsberechtigung sowie die Prinzipien der Koexistenz und Einheit zwischen den Mitgliedsstaaten erschüttert.3 In den vergangenen Jahren waren die europäischen Länder im Zeichen aufkommender nationalistischer Tendenzen nicht mehr wie einst in der Lage, die Krise in ihrer radikalsten Bedeutung zu verstehen – als einen wesentlichen Moment der Entscheidungen und Veränderung. Dies hat das politische Wirkungsfeld der EU ineffizient und nahezu unsichtbar in den Augen der europäischen Bürger werden lassen, unter denen sich berechtigterweise ein tiefes Gefühl des Misstrauens gegenüber dem europäischen Projekt verbreitet hat. Selbst die flammendsten Europäer taten sich schwer damit, konkrete Antworten zu finden. Sie zeigten sich zögerlich und nur bedingt überzeugt vom wirklichen Wert der Einheit in Europa. Dadurch zeigten sie sich verletzlich gegenüber denjenigen, die sich – im Gegensatz zu ihnen – ganz unverhohlen um die Zersetzung Europas bemühten. Damit begingen sie nach Max Weber zwei „Todsünden“ für einen jeden, der sich der Regierungsverantwortung gewachsen fühlt: Unglaube an die Sache und fehlender Mangel an Verantwortung.4 An diesem Punkt nun, in den Momenten großer Schwierigkeiten und im Rausch eines von der Abwesenheit großer Ideen und politischem Bewusstsein gespeisten „Horror Vacui“, kam es zur Rückbesinnung auf die Formel „Vereinigte Staaten von Europa“ – ein aushallendes Echo in einem Tal ohne Hoffnung.
Welcher Sinn lag im politischen Mantra der „Vereinigten Staaten von Europa“, jedes Mal wenn es wieder im gesellschaftlichen und politischen Diskurs auftrat, außer uns zu sagen, was wir nicht sind? Oftmals werden die Versäumnisse im politischen System Europas der Entscheidungsunfähigkeit der Nationalstaaten zugerechnet, sich in einem mehr als 60 Jahre andauernden Integrationsprozess zu einigen, so wie es die amerikanischen Staaten bereits zwei Jahrhunderte zuvor mit dem Verfassungskonvent von 1787 getan hatten. Seit den 1950er Jahren, nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954 und der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) kurz darauf, scheint Europa einen sehr viel komplexeren Weg eingeschlagen zu haben. Dieser hat den Kontinent unter großen Anstrengungen zu einer Union von Staaten und Bürgern mit undurchsichtigen institutionellen Mechanismen geführt. Jenseits der Einzelmeinungen bezüglich der Interpretation der Geschichte der europäischen Integration, lädt die Geschichte schließlich zu einer Reflexion darüber ein, was wir nicht geworden sind: eine Föderation, die Vereinigten Staaten von Europa, so wie sie sich auf der anderen Seite des Atlantiks geformt haben. Es lässt sich recht deutlich beobachten, wie es bereits seit der Nachkriegszeit – man denke zum Beispiel an die Rolle De Gaulles – vielerlei und widersprüchliche Stimmen bezüglich des politischen Gleichgewichts in Europa gab. Dies hatte zur Folge, dass die Vereinigten Staaten von Europa bis heute ein unerreichtes Ziel geblieben sind. Besiegelt wurde dies auch durch das Scheitern des Referendums zu einer europäischen Verfassung 2005 in Frankreich und in den Niederlanden. Man hatte viel darauf gesetzt, sowohl um die Europäische Union einem föderalen System im klassischen Sinne anzugleichen, als auch um die Fundamente für ein Gründungsmoment von hoher Emotionalität zu legen, was Michael J. Klarman aus amerikanischer Perspektive „the worship of Constitution“ nennt.5
Читать дальше