Das vorliegende Buch beschreibt viele verschiedene Facetten des europäischen Einigungsprozesses und enthält zahlreiche Deutungen dieses Wegs, so dass es vermessen wäre, hier ein Resümee der Beiträge zu versuchen. Ein gemeinsamer Nenner lässt sich gleichwohl ausmachen: Das Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ ist der Versuch, die Europäische Union irgendwie mit Hilfe halbwegs vertrauter Modelle zu definieren, sei es ablehnend, sei es zustimmend.
Aber hier offenbaren sich auch gleich die Hauptprobleme: Welche politischen und kulturellen Vorstellungen verbindet man eigentlich mit den Vereinigten Staaten von Amerika, wenn man sie zum Vorbildmodell für Europa oder zur Abschreckung nimmt? Wenn, wie zuletzt, immer wieder der Hamilton-Moment angerufen wird, so liegt der Akzent offenbar auf Fragen des Bundeshaushalts einer imaginierten Föderationszentrale im Verhältnis zur mehr oder weniger großen Fiskalautonomie der einzelnen Bundesstaaten.
In der Pandemieerschütterung lag der Akzent aber woanders: auf der „Solidarität“, welche die in einer Union verbundenen Mitglieder einander schuldeten. Weiter gefragt: Taugen die USA als Modell für Europa, wenn von der „Identität“ des europäischen Gemeinwesens (Voraussetzung von Solidarität), von gemeinsamen Traditionen, vom gemeinsamen Rechtsverständnis die Rede ist?
Ich glaube nicht.
Jedenfalls so lange nicht, wie es keine öffentliche europäische Diskussion darüber gibt, was überhaupt mit solchen hochpolitischen, leicht instrumentalisierbaren Leitbegriffen wie „Solidarität“, „Identität“ oder „Souveränität“ oder eben „United States“ gemeint ist. Natürlich lässt sich dabei kein Konsens produzieren; aber vielleicht lässt sich die Sensibilität dafür fördern, dass Diversität der Ansichten hierzu eine europäische Stärke ist und keine Unterminierung Europas. Auch wenn es heute angesichts mächtiger Angleichungspolitiken manchmal anders erscheinen mag: Aber der europäischen Tradition sind Homogenitätsdoktrinen eigentlich eher fremd. Daher sollten die Europäer, glaube ich, auch weniger Phobien gegen ein Europa der zwei (oder mehr) Geschwindigkeiten hegen - wobei das natürlich eine politisch ungeschickte Ausdrucksweise ist (denn wer will schon freiwillig zu einer langsamen Gruppe gehören?). Mir wäre es sympathischer, auf ein Europa der „bewussten Diversität“ hinzuwirken.
Die Beiträge des vorliegenden Bandes, so scheint mir, stützen meine Skepsis hinsichtlich der Implikationen des Programms „Vereinigte Staaten von Europa“. Die Europäer sind als Union etwas Neues, „sui generis“, etwas Mutiges, so wie es die USA 1776 waren, als sie ganz bewusst alle alteuropäischen Vorbilder abgeschüttelt und sich der Last der politischen Traditionen entledigt haben. Historisch-genetisch argumentiert: die USA sind eine Gegen-Gründung. Das ist ihr spirit. Ihre Ideologie entlehnten sie der griechisch-römischen Antike, aber sie wollten keine koloniale Fortschreibung Europas sein. Gegen wen oder was wollte sich eigentlich die EU gründen?
Wenn überhaupt, dann sollte meines Erachtens die Analogie bezüglich des Gründungsstolzes betont werden: Wir schaffen für uns etwas zuvor nie Dagewesenes. Von daher halte ich auch die (viel zu schnell und oberflächlich ad acta gelegte) Ablehnung der „europäischen Verfassung“ durch die Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005 für ein wichtiges, aber unterschätztes Signal, dass die europäischen Souveräne etwas anderes wollen als das schon Bekannte.
Es gibt auf Youtube großartige Lehrvideos von jungen „Dozenten“ zum Für und Wider einer Vorstellung von Europa in der Gestalt von „Vereinigten Staaten“. Sie zeigen, dass die Formel der „Vereinigten Staaten von Europa“ zu stark „vorbelastet“ und traditionsbehaftet ist, um die innovative, absolut einmalige Qualität der EU zum Ausdruck zu bringen, und sie zeigen auch, wie ich finde vorbildlich, dass es bei allen kulturellen, aber eben auch bei den politischen Integrationsentscheidungen immer um den Abgleich von Anschauungen, Narrativen, von gegenseitigem „Story-telling“ gehen muss.
Ein markantes Beispiel der letzten Zeit war das italienische „Story-telling“ zu der Bemerkung der Präsidentin der Europäischen Zentralbank Christine Lagarde im März 2020, es sei nicht Aufgabe der EZB, der Zinsdifferenz zwischen Bundesanleihen und italienischen Staatsanleihen entgegenzuwirken. Während sich ihre Feststellung für deutsche Ohren als völlig neutrale Aufgabenbeschreibung anhörte, wurde ihre Bemerkung von den italienischen Medien als böser Angriff auf Italien präsentiert.1 Die Medien in den verschiedenen europäischen Staaten schienen über komplett unterschiedliche Sachverhalte zu berichten, so groß war die Distanz.
Einer der prominentesten italienischen Kommentatoren zu europäischen Fragen (Sergio Fabbrini, in der Wirtschaftstageszeitung Il Sole24Ore) hat daran erinnert, dass ein ur-europäisches Problem der Spagat zwischen Eliten-Diskurs und „volkstümlichen“ (bitte um Pardon für den antiquierten Ausdruck!) Europa-Erzählungen ist, zwischen denjenigen, die die europäischen Mechanismen konstruieren und verstehen (das ist die „politische Deutungskultur“, nach Karl Rohe), und denjenigen, für die die politische Partizipation in einem überschaubaren, konkreten Raum entsteht, dessen Sprache man spricht („Soziokultur“). Die USA haben eine gemeinsame Sprache, die Europäer nicht. Aber Parlament heißt „parlare“: Der Souverän benötigt das Medium der Sprache zur politischen Willensbildung. Vielleicht eignet sich eher die Confoederatio Helvetica als Modell für die Europäer?
Im vorliegenden Band nennt Manuel Müller drei klassische Narrative zur Legitimation - nicht Europas wohlgemerkt, welches keine Legitimation benötigt!, sondern der Europäischen Union: das „Friedensnarrativ“; das „Wohlstandsnarrativ“ und das „Selbstbehauptungsnarrativ“. Vielleicht kommen sich die Europäer ein Stückchen näher, wenn sie Wege und Instrumente erfinden, einander ihre nationalen (und regionalen und lokalen) Geschichten besser zu erzählen; wenn sie sich Mühe geben, den Partnern die Traditionen und das „Rationale“ ihrer eigenen Einstellungen und Werturteile zu vermitteln, damit man sich darüber tatsächlich auf Augenhöhe austauschen kann.
Christiane Liermann Traniello
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Prefazione
Al tempo della pandemia globale gli europei hanno imparato, così mi sembra, a relativizzare la certezza della progettualità che (non meno della sensibilità per le contingenze) è una parte importante della loro eredità culturale, e a diventare più modesti. La nuova (ritrovata?) consapevolezza, quasi metafisica, che letteralmente da un giorno all’altro tutto può svolgersi in modo diverso da quello a cui eravamo abituati ci fa sentire più fortemente la precarietà di ogni diagnosi politica. Nel senso di questa nuova cautela, di questo prudente approccio alle sintomatologie politiche che sono molto fluide e sembrano dipendere più fortemente che mai dagli stati d’animo, ogni tentativo di definire una precisa posizione attuale rischia di essere superato già all’indomani. Ma proprio l’Europa ha bisogno di una definizione della sua posizione, di un’autoidentificazione, sempre di nuovo, in uno scambio permanente tra gli europei. Potrà sembrare terribilmente eurocentrico, ma a me pare che poche entità politiche a scala globale si sforzino così come l’Europa di attingere ad una propria identità.
Si può chiamare “Stati uniti” l’Unione degli europei? Rappresentano gli USA (ai quali evidentemente si pensa e si è invitati anche a pensare da quando esiste la formola degli “Stati uniti d’Europa”) il modello che sollecita gli europei all’imitazione o viceversa al rifiuto?
Il presente volume descrive molti e svariati aspetti del processo europeo di integrazione e comprende numerose interpretazioni di questo cammino tanto che sarebbe presuntuoso tentare qui un riassunto dei contributi che lo compongono. Un comun denominatore si può tuttavia identificare: la formula degli “Stati uniti d’Europa” rappresenta il tentativo di definire l’Unione europea con l’aiuto di un modello in qualche modo familiare, sia nell’approvazione, sia nel rifiuto.
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