Bevor wir versuchen, das zu beantworten, sollten wir uns kurz vergegenwärtigen, wie hart ein wirklich harter Schuss überhaupt ist. Dafür blicken wir kurz auf das Spiel, das gemeinhin als schnellster Mannschaftssport der Welt gilt, Eishockey. Denn wenn wir sagen, dass jemand einen „harten Schuss“ hat, meinen wir ja in Wirklichkeit einen Schuss, der sich mit großer Geschwindigkeit durch die Luft bewegt.
Der russische Verteidiger Alex Riazantsev gilt als Spieler mit dem härtesten Schlagschuss der Welt, nachdem er Anfang 2012 bei einer Showveranstaltung den Puck auf 183,7 km/h beschleunigte. Das Verblüffende daran ist dies: Jene kleinen, kompakten Hartgummischeiben, die von kräftigen Männern mit Hilfe eines Holzschlägers, der als eine Art Wurfmaschine dient, durch die Luft katapultiert werden, fliegen langsamer als ein viel größerer, relativ leichter Fußball, der von einem menschlichen Bein getroffen wird. Denn egal, wo genau nun der aktuelle Rekord stehen mag, es gibt keinen Zweifel daran, dass eine Schussgeschwindigkeit jenseits der 200 km/h nötig ist, um wenigstens in seine Nähe zu kommen.
Im Februar 2007 veröffentlichte die englische Zeitung The Guardian eine Liste der „härtesten Schützen“. Sie wurde angeführt von Sheffield Wednesdays Stürmer David Hirst, dessen Schuss 1996 mit 183,47 km/h gemessen wurde. Doch zum Zeitpunkt des Guardian -Artikels galt vielen anderen Quellen schon ein Schuss von Roberto Carlos aus dem Jahre 2000 als schnellster – der Ball flog damals mit 202 km/h. Und dann tauchte ein Video aus dem November 2006 auf. Es zeigte den Brasilianer Ronny Heberson Furtado de Araújo – ja, genau: der spätere Hertha-Profi Ronny – im Trikot von Sporting Lissabon, wie er mit einem fulminanten Freistoß gegen Naval traf. Anhand des Filmmaterials wurde berechnet, dass der Schuss mit 210,9 km/h im Netz des Gegners einschlug.
Aber können uns Messungen solcher Art wirklich sagen, wie hart jemand schießt? Man denke nur daran, wie radikal sich das Spielgerät im Laufe der Jahre verändert hat. Leute, die sich mit so etwas auskennen, behaupten, dass Luigi Riva, der große italienische Star der 1960er und 1970er Jahre, mit einem modernen Ball ohne Weiteres Geschwindigkeiten von mindestens 200 km/h erreicht hätte. (Riva war berühmt für die Wucht seiner Schüsse. Im Oktober 1970 brach er mit einem von ihnen den Arm eines Jungen, der sich ein Trainingsspiel von Rivas Klub Cagliari Calcio ansah.)
Selbst wenn Messungen aussagekräftig wären: Die meisten Spieler, die für eine „Klebe“ berühmt waren, ließen die Geschwindigkeit ihrer Schüsse nie messen. Wie zum Beispiel der Frankfurter Bernd Nickel, der in den 1970er Jahren wegen seiner gefürchteten Schusskraft den Spitznamen „Dr. Hammer“ erhielt. Nickel verbrachte einen großen Teil seiner Kindheit damit, einen Ball gegen ein riesiges Scheunentor zu schießen. „Die Scheune ist längst abgerissen“, sagt er. „Wahrscheinlich, weil das Holztor morsch war.“ Auch von Ferenc Puskás wissen wir nicht, wie hart er wirklich schoss. Viele seiner Zeitgenossen schwören Stein und Bein, dass niemand jemals einen härteren Schuss hatte. Deswegen nannten sie ihn in Spanien, als er für Real Madrid spielte, „Cañoncito Pum“ – so etwas wie: die kleine, abfeuernde Kanone. Dann wäre da noch der legendäre österreichische Stürmer Franz „Bimbo“ Binder. In Dietrich Schulze-Marmelings Buch Der FC Bayern und seine Juden findet sich eine bezeichnende Anekdote, die auf einen 5:2-Sieg von Rapid Wien 1939 in München zurückgeht. „Nach dem Spiel“, heißt es dort, „überreichen die Bayern Binder ein zerrissenes Tornetz, das der Goalgetter mit seinen Schüssen zerfetzt hat“.
Und manchmal ist ein Schuss so hart, dass man ihn nicht messen kann. Im November 2004 schoss Anderlechts Walter Baseggio in einem Spiel der ersten belgischen Liga vom Strafraumrand aus volley auf das Tor von La Louvière. Baseggio traf den Ball mit solcher Wucht, dass das Spielgerät beim Aufprall explodierte – und mit heraushängender Blase über die Torlinie segelte. Der Schiedsrichter ließ den Treffer gelten, Anderlecht gewann 2:1.
Warum bekam Helmut Haller 180.000 Mark von einem englischen Boulevardblatt?
Als das WM-Finale 1966 im Wembley-Stadion von London abgepfiffen wurde, griff sich Helmut Haller – der Schütze des deutschen Führungstores – den Spielball und marschierte damit in die Kabine. Normalerweise ist es die Aufgabe des Schiedsrichters, den Ball nach dem Ende des Spiels an sich zu nehmen, doch in diesem Fall tat Gottfried Dienst das nicht. Vielleicht, weil Haller ihm einfach zuvorkam. Glaubt man den englischen Medien, dann brachte der Spieler für seine Handlung, die die Augsburger Allgemeine als „Ball-Klau“ bezeichnete, später eine etwas seltsame Erklärung vor: „Das ist eine alte deutsche Tradition. Wenn der Sieger einen Pokal bekommt, kriegt der Verlierer den Ball.“
In England ist es allerdings eine Tradition, dass der Schütze eines Hattricks den Spielball bekommt. Und nach englischer Definition hatte Geoff Hurst das im Finale getan. (In fast allen Ländern der Welt stellen drei Tore einen Hattrick dar – unabhängig davon, wann und in welcher Reihenfolge sie erzielt werden. Nur in Deutschland muss man sie in einer Halbzeit und ohne Unterbrechung durch einen anderen Treffer markieren.) Doch wie Hurst später zugab, vergaß er einfach „inmitten der ganzen Euphorie über die gewonnene Weltmeisterschaft“, sich um den Ball zu kümmern. Er hätte sogar eine gute Gelegenheit gehabt, das Spielgerät dann doch noch an sich zu nehmen, denn beim Bankett nach der Siegerehrung ließ Haller den Ball herumgehen, damit ihn die Spieler unterschreiben konnten.
Daran sieht man schon, dass der Deutsche nicht heimlich handelte und den Ball auch keinesfalls „klauen“ wollte. Und doch entstand im Laufe der Jahre der Mythos, dass Haller den historischen Ball buchstäblich unter den Nasen der Engländer geschickt aus dem Stadion geschleust habe. Sogar die Deutsche Welle schrieb noch im Juli 2009: „Bei der Spielerehrung schmuggelt er die Kugel unter dem Trikot vorbei an Königin Elisabeth.“ Das tat Haller aber mitnichten. Auf den Fotos, die nach dem Finale entstanden, kann man deutlich sehen, wie er der Queen die rechte Hand gibt – und dabei für alle Welt sichtbar den Ball unter den linken Arm geklemmt hat.
Vielleicht kam der Mythos vom verschollenen Ball deswegen auf, weil Haller das Leder einfach in den Keller seines Augsburgers Hauses legte – und dann dort so gut wie vergaß. Bis die britische Presse im Vorfeld der EM 1996 in England plötzlich wissen wollte, wo das wichtigste Spielgerät ihrer Fußballgeschichte abgeblieben war. Allen voran natürlich die berüchtigten englischen Boulevard-Blätter. So schrieb die Sun am 25. April 1996, dass sie „Hursts verlorenen Ball“ gefunden habe, und zwar „nach einer groß angelegten Suchaktion“.
Doch finden heißt nicht haben.
Am folgenden Tag meldete die Konkurrenz-Zeitung Daily Mirror, einer ihrer Reporter habe „seine Hände am Ball“ und sei damit zurück auf dem Weg nach England.
Jener Reporter, Peter Allen, schrieb anschließend sogar ein ganzes Buch ( An Amber Glow ) über seine Jagd nach dem Ball, obwohl die Recherche nun wirklich nicht schwierig war. Sogar Hurst wusste die ganze Zeit über, dass der Ball sich in Hallers Besitz befand.
Für welche Summe der Ball dann den Besitzer wechselte, ist nicht völlig sicher. Englische Zeitungen schrieben von 80.000 Pfund, von denen ein Viertel an die Kinderkrebshilfe gegangen sei. Der Spiegel vermeldete 180.000 Mark und fügte an: „Haller verschenkte das Geld.“ Wie auch immer, für einen der Beteiligten war es kein gutes Geschäft: für den Ball. Seine neuen Besitzer stellten das Leder in der Nähe des Bahnhofs Waterloo Station aus. „Er war dort der direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt“, klagte einige Jahre später Mark Bushell, Marketingchef des Nationalen Englischen Fußballmuseums. „Deswegen sind alle Autogramme verblasst. Es ist unglaublich.“
Читать дальше