„Oh Mann, was glauben die, wer ich bin?“, dachte Bent Jakobsen, setzte sich in den Wagen, öffnete die Tür und machte sich eine Zigarette an. Es war ein Nichtraucher-Wagen, aber bei offener Tür konnte das ja wohl nicht weiter schlimm sein. Und dann in solch einer Situation. Er sollte wohl besser die Zentrale informieren, dass sie einen anderen Fahrer in die Bäckerstraße schicken mussten.
Kapitel 7
Ich war größer geworden und Opa war zum letzten Mal zu einem abendlichen Besuch auf meinem Zimmer gewesen. Das war nun schon lange her und ich hatte jeden Abend wach gelegen, meine Hände zu Fäusten geballt, meinen Atem angehalten und alle Muskeln angespannt. Aber er kam nicht mehr.
Zuerst hatte ich ein komisches, leeres Gefühl in der Magengegend gehabt. Und dann begann es regelrecht in mir zu brodeln. Ich kaute Nägel und die Haut um die Nägel herum, klaute nachmittags Süßigkeiten im Milchladen an der Ecke, die ich oben auf meinem Zimmer in mich reinstopfte. Ich begann, Mutter und Oma Zigaretten zu klauen und rauchte sie, sobald ich Gelegenheit dazu hatte. Und ich hatte mit Erik eine Flasche Kirschwein hinter der Schule geteilt.
Das war ein gutes Gefühl gewesen. Dazusitzen und das Rauschen des Weines im Kopf zu fühlen und die Ruhe, die mir die Zigaretten für einen Moment verschafften. Danach hatten wir welche aus der zweiten Klasse geschubst und ich fühlte mich wie ein Teufelskerl. Das dämpfte alles. Ich bekam das Gefühl, selbst zu bestimmen. Ich war derjenige, der die Kontrolle hatte.
Niemand sollte mich jemals wieder gegen meinen Willen anfassen. Das entschied ich an jenem Abend, als meine Mutter hochkam um Gute Nacht zu sagen. Sie hatte bemerkt, dass Opa nicht länger zu mir ins Zimmer kam und Gutenachtgeschichten vorlas. Aber dafür war ich wohl zu groß geworden. Einen Kuss konnte ich noch bekommen.
Als sie sich über mich beugte, legte ich meine Hand um ihren Hals und flüsterte, dass sie aus meinem Zimmer verschwinden sollte. Mutter hatte ängstlich ausgesehen, als sie ging. Und traurig. Das Mitleid, das ich einen kurzen Augenblick empfunden hatte, verschwand und wurde verdrängt von einem Rausch, der besser war als die Süßigkeiten, Zigaretten und der Alkohol.
Ich hatte gefühlt, wie es war, Macht zu haben. Und von diesem Augenblick an gab es keinen Weg zurück.
Kapitel 8
Die Polizei hatte eine Pressemitteilung über den Fund von Nannas Handy am Wegesrand herausgegeben. Man hatte keine Spuren gefunden, die helfen könnten, die Frage zu beantworten, wo sie oder ihre Schwester abgeblieben waren, aber das Telefon an sich war schon Beweis dafür, dass die Mädchen diesen Weg gegangen waren und das irgendetwas geschehen sein musste.
Line war unbehaglich zumute und sie konnte sich nicht überwinden, Helene Bech anzurufen, um sie um einen Kommentar zu bitten. Aber das musste sie, das war ihr Job. Leute anzurufen, bei denen man nicht vorher wusste, wie sie reagierten, war einer der Aspekte ihrer Arbeit, die sie nicht sonderlich mochte.
Sie wühlte in ihrer Tasche nach etwas Essbarem, während sie sich überlegte, wie sie das Gespräch mit Helene Bech beginnen sollte, deren Kinder nun anderthalb Tage vermisst wurden. Line fühlte mit ihr wie eine Mutter, gleichzeitig wollte sie gerne ein aussagekräftiges Statement von ihr über den Fund des Handys ihrer Tochter für die morgige Zeitung.
Es gab dabei keine gute Art es zu tun, sie konnte es genauso gut einfach hinter sich bringen. Außerdem konnte sie Lars Hansens abwartenden Blick spüren. Zum Teufel mit diesen offenen Büroräumen.
Line fand die Reste eines Schokoladenriegels, 70% Kakaoanteil. Das war ja nicht so ungesund, dachte sie, während sie Block und Kugelschreiber zurechtlegte, aufkaute und Helene Bechs Nummer eintippte.
„Hallo?“, die Stimme am anderen Ende klang angstvoll.
„Hej Helene, hier ist Line Lyng von der Regionalzeitung Nordseeland.“
„Oh, hallo.“
Line ging auf, dass Helene Bech sicher zusammenfuhr, wenn ihr Telefon klingelte, sowohl aus Angst vor als auch aus Hoffnung auf Neuigkeiten bezüglich ihrer Töchter. Damit wurde ihr Unwillen, sie anzurufen, nicht gerade kleiner, aber nun gab es auch keinen Weg mehr zurück.
„Die Polizei hat Nannas Handy gefunden. Was meinst du dazu?“
Es war still am anderen Ende der Leitung und Line bereitete sich darauf vor, dass Helene Bech sie fragte, was zur Hölle sie sich eigentlich einbildete. Aber dann konnte sie hören, dass Helene weinte und ihre Stimme nicht kontrollieren konnte.
„Sie waren auf dem Heimweg… Es lag genau an der Strecke, die sie sonst auch nehmen. Vielleicht ist es ihr aus der Tasche gefallen… Aber das hätte sie ja bemerkt. Und wenn ihnen nichts passiert wäre, hätten sie mittlerweile angerufen. Von Nikolines Telefon oder einem anderen. Sie wissen, was für Sorgen ich mir mache.“
Line weinte jetzt selbst, es war einfach nicht auszuhalten und sie konnte sich vollkommen in Helene Bechs Angst hineinversetzen. Bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte, sagte Helene Bech:
„Jetzt will ich nur noch wissen, was da passiert ist. Diese Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich kann nichts machen. Gar nichts. Ich sitze nur rum…“
Line beendete das Gespräch, nachdem sie mit Helene Bech abgemacht hatte, dass sie wieder anrufen dürfe, wenn es neue Entwicklungen gebe. Dann begann sie zu schreiben.
Mutter der vermissten Zwillinge: Die Ungewissheit ist das Schlimmste
Die Polizei hat Nanna Bech Tofts Handy gefunden. Die Mutter der verschwundenen 13-jährigen Mädchen ist sicher, dass ihren Töchtern etwas zugestoßen ist. Dennoch bewahrt sie die Hoffnung, dass Zwillinge am Leben sind.
„Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich sitze nur hier herum und kann nichts tun“, sagt die unglückliche Mutter Helene Bech.
Line machte eine Pause und sah auf die Uhr. Es war bald 12.00. Sie musste noch den Onlineartikel fertigstellen, bevor sie zum Mittagessen in die Kantine ging. Danach musste sie noch einige Interviews für nächste Woche vorbereiten und dann einkaufen. Freitag. Wochenende. Was würden sie wohl unternehmen? Line seufzte und schaute sich ihren Text noch einmal an. Sie fügte noch einige Zitate ein und Fakten zum Fall. Dann loggte sie sich aus und ging in die Kantine.
Nach Wiener Schnitzel und dem Kuchen des Tages beschloss Line, dass das Abendessen leicht sein sollte. Um 15.00 Uhr ging sie aus der Redaktion und über den Parkplatz zu ihrem Auto. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung, doch bevor sie den Wagen startete, rief sie bei Mikkel an.
„Hallo Mama. Ich bin bei Lucas.“
„Okay, Schatz. Ich hole dich da um halb sechs ab.“
„Warum?“
„Weil ich den Gedanken nicht mag, dass du abends allein auf der Straße unterwegs bist.“
„Also, ganz ehrlich, halb sechs ist doch noch nicht abends.“
„Solange wir nicht wissen, was mit den vermissten Zwillingen passiert ist und wer sie entführt hat, bin ich eben extra vorsichtig.“
„Ja, aber ich bin ja ein Junge.“
„Ja, Schatz, das ist mir nicht entgangen. Aber wir wissen ja nicht, ob der Entführer nicht auch auf die Idee kommt, Jungen zu entführen. Also musst du dich damit abfinden, dass deine Mama ein wenig mehr über dir kreist, als sie es sonst macht.“
„Wir haben heute in Dänisch darüber geredet. Und einige Mädchen aus der Klasse werden auch abgeholt, obwohl sie sonst mit dem Rad fahren.“
„Ja, siehste mal. Ich hole dich um halb sechs, Schatz. Bis dann.“
Mikkel seufzte. Er dachte sicher, dass er jetzt nicht auf dem Skateboard heimfahren konnte, aber er sagte „Okay, Mama“ und legte auf. Line dachte darüber nach, ob sie es übertrieb mit ihrer Vorsicht, sie wohnten ja ein gutes Stück von Fredensborg entfernt. Aber es konnte ja nicht schaden, ein wenig mehr aufzupassen, so lange nicht klar war, was da eigentlich passiert war. Allein der Gedanke daran, dass sie Mikkel nicht abholte und ihm etwas zustieß… Line verdrängte die Bilder aus ihrem Kopf, startete den Wagen, machte das Radio an und fokussierte ihre Gedanken auf das Abendessen.
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