„Zwei verschwundene Mädchen, was zum Teufel mag denen wohl geschehen sein?“, sagte Line, als sie mit Steen wieder im Auto saß.
„Ich glaube ja, die sind mit zwei Typen ab nach Christiania und machen einen drauf“, antwortete Steen und fuhr fort: „Wie die Mutter selbst sagte, es ist schon äußerst unwahrscheinlich, dass beiden etwas passiert ist. Die tauchen schon wieder auf, in der Zwischenzeit gibt es einiges zu erledigen. Wir schauen uns mal in der Gegend um. Du willst sicher den Einsatzleiter sprechen? Und ich hätte gern ein paar Bilder von den Nachbarn, wie sie den Wald durchsuchen. Also haben wir ein wenig was zu tun.“
„Man muss aufpassen, was man sich wünscht. Ich hatte das Gefühl, es sei ein wenig zu ruhig und langweilig, aber an sowas hatte ich nun wirklich nicht gedacht“, sagte Line und dann machte sie das Radio lauter, dort spielten sie gerade die Red Hot Chili Peppers.
Nachdem sie zur Redaktion zurückgekehrt waren und Line sich eine Banane, einen Apfel und ein Mineralwasser geholt hatte, setzte sie sich an ihren Computer. Sie brauchte einen Text für die Internetseite, sowie die morgige Ausgabe der Zeitung und begann mit der Onlineversion, damit diese schnellstmöglich hochgeladen werden konnte.
Zwillingsmädchen verschwunden
Die Polizei sucht nach den beiden Teenagern Nikoline und Nanna Bech Toft im Umkreis ihres Elternhauses und des Freizeitclubs in Fredensborg.
Die Mädchen verschwanden auf dem Heimweg vom Club gegen 21.00 Uhr gestern Abend, die Polizei bittet die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Suche.
Line beschrieb die beiden Mädchen, gab die Rufnummer der Polizei an und kümmerte sich dann um das Interview von Helene Bech.
Wo sind meine Töchter?
Die Mutter der 13-jährigen Zwillingsmädchen hat selbst einen Suchtrupp auf die Beine gestellt. Den ganzen Vormittag suchten Nachbarn nach den Mädchen im Umkreis des Freizeitclubs und des Elternhauses in Fredensborg.
„Ich tröste mich damit, dass sie zusammen sind“, sagt Helene Bech, die Mutter. „Es kann ihnen doch nicht beiden etwas passiert sein? Sie gehen nicht ans Telefon und das sieht ihnen gar nicht ähnlich. Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen, aber es wirkt so unwahrscheinlich, da sie zu zweit sind. Ich muss auf jeden Fall etwas tun, ich kann nicht nur hier herumsitzen und darauf warten, dass das Telefon klingelt“.
Lest das ganze Interview mit Helene Bech in der morgigen Ausgabe der Regionalzeitung Nordseeland. Alle weiteren Entwicklungen zu den beiden vermissten Mädchen aus Fredensborg werden umgehend hier online gestellt.
LL
Line lud den Text hoch und holte vom Server eines von Steens Bildern von Helene Bech, die mitten zwischen den offenen Türen der Kinderzimmer stand. Sie schrieb Steens Namen unter das Bild nachdem sie einen kurzen Bildtext verfasst hatte: „Helene Bech hofft, dass ihre Töchter bald heimkommen.“ Danach begann sie mit dem längeren Text für die Printausgabe.
Als Line heimfuhr, dachte sie an Helene Bech. Arme Frau. Es musste die Hölle sein, nicht zu wissen, wo die eigenen Kinder waren. Hoffentlich kamen sie noch heute heim, dachte sie, als sie auf den Irma-Parkplatz fuhr. Sie wollte Rinderhack, Burgerbrötchen und einen Salatkopf kaufen. Heute Abend sollte es selbstgemachte Burger geben und alle anderen Zutaten hatten sie bereits daheim. Mayonnaise, Tomaten, eingelegte Gurken, rohe und geröstete Zwiebeln, Ketchup und Schmelzkäse.
Line hatte mit Jonas die obligatorischen sechs Telefonate im Laufe des Tages geführt. Er schien nicht in Trinklaune zu sein, also konnte er einen Film seiner Wahl sehen. Sie selbst würde Mikkel fragen, ob die beiden sich Popcorn machen und eine Runde Stratego spielen sollten. Sie hoffte, dass er nichts Anderes vorhatte.
Zum Gott-weiß-wievielten Mal überlegte Line, ob sie Jonas verlassen sollte. War das Leben nicht zu kostbar, um es so zu verbringen? Sie konnte wenigstens aktiv etwas gegen ihre gegenwärtige Lebenssituation tun, im Gegensatz zu Helene Bech, die nur passiv dasitzen und abwarten konnte, in welche Richtung ihr Leben sich entwickeln würde. Helene hatte ihre schreckliche Lage nicht selbst gewählt, Line hingegen schon und darum hatte sie die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Aber das würde sie nicht heute tun, dachte sie, während sie den Schlüssel hervorkramte.
Kapitel 6
Bent Jakobsen trank den letzten kalten Schluck Kaffee aus seinem Becher, stand von dem Klappstuhl in der Küche auf und nahm die Thermoskanne mit dem frischen, warmen Kaffee vom Küchentisch, die seine Frau dort hingestellt hatte. Er ging hinaus in den Eingangsbereich, stellte die karierten Pantoffeln ins Schuhregal und zog die weichen Holzschuhe, die hinten offen waren, an. Dann nahm er seine Windjacke vom Bügel, steckte den Kopf noch einmal durch die Küchentür, um seiner Frau, Birthe, tschüss zu sagen, die an der Spüle einen Eimer mit Wasser füllte. Er bekam ein „Tschüss, mein Freund, hab einen guten Tag“ zurück. So wie immer.
Birthe war eine gute Frau, sie war eine gute Mutter für ihre Söhne gewesen, die schon längst nicht mehr bei ihren Eltern wohnten. Sie hatten sich einfach nicht mehr so viel zu sagen. Hatten sie das jemals? Aber zum Teufel noch eins, wer hatte schon Lust auf das dauernde Palaver. Davon hatte er schon genug im Taxi, das er täglich von 9 bis 17 Uhr fuhr.
Bent setzte sich in den Wagen, den die Nachtschicht auf dem Parkplatz vor der Wohnung im Wohnkomplex in Asminderød abgestellt hatte, wo Birthe und er seit fast acht Jahren wohnten, nachdem sie das Haus in Hillerød, in dem die Kinder aufgewachsen waren, verkauft hatten. Der Kollege wohnte im selben Wohnkomplex, das war sehr angenehm.
Bent stellte den Sitz auf seine kurzen Beine und seinen großen Bauch ein. Er machte das Radio an, genau in dem Moment begannen die Nachrichten.
„Zwei junge Mädchen verschwunden. Hier in der Nachbarschaft. Schöne Scheiße“, dachte Bent Jakobsen und fuhr auf dem Königsweg Richtung Fredensborg.
Die Massen von Polizei und Presse erinnerten einen an das Aufgebot, das aufgefahren wurde, wenn etwas im Schloss passierte. Abgesehen davon, dass die Polizei heute die Autos anhielt und Leute auf der Straße ansprach. Bent Jakobsen wurde auch an den Rand gewinkt.
„Tag auch, Nordseelands Polizei“, sagte der Polizist, der vom Alter her sein Sohn hätte sein können.
„Einmal deinen Namen und deine Personalausweisnummer, bitte.“
Bent Jakobsen gab die verlangten Auskünfte, obwohl es ihm missfiel, seine Ausweisnummer anzugeben. Nicht, weil er etwas zu verbergen hatte, vielmehr aus Prinzip.
„Wir suchen zwei Mädchen. Ist dir etwas Ungewöhnliches auf deinem Weg aufgefallen? Autos an verlassenen Stellen, Personen, die sich merkwürdig benommen haben oder ähnliches?“
Bent Jakobsen verneinte und nahm die Karte entgegen, auf der die Telefonnummer notiert war, unter der man sich melden sollte, wenn man Hinweise zu diesem Fall hatte. Dann verabschiedete er sich, wünschte dem Polizisten viel Erfolg und fuhr wieder los.
Im Kreisel nahm Bent Jakobsen die erste Ausfahrt in den Wäldchenhügel, während er das Radio aufdrehte, wo Lars Lilholt von Liebe sang. Er blinkte und fuhr in den Christ Boecksweg, um in die Bäckerstraße zu kommen, von wo aus seine erste Tour des Tages losging. Auf einmal fiel ihm etwas Hellrotes am Wegesrand auf. Etwas, das nicht in die Landschaft gehörte. Etwas, das ins Auge fiel, zumindest, wenn man hier viel unterwegs war. Er fuhr den Wagen an die Seite, stieg aus und ging näher. Ein Handy. Er bückte sich mit einigen Schwierigkeiten hinunter und besah es sich näher. Er hatte genug Fernsehkrimis gesehen, um zu wissen, dass er es liegen lassen musste und nicht anfassen durfte. Denn ihm war sofort klar, dass es eine Spur zu den vermissten Mädchen sein könnte.
Sollte er zurück zu dem Polizisten fahren? Nein, er entschloss sich, zu bleiben und fingerte sein Handy aus der Jackentasche. Der Polizist am Telefon bat ihn, an Ort und Stelle zu warten, bis die Polizei bei ihm war und unter keinen Umständen mögliche Spuren zu zertrampeln oder etwas anzufassen.
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