Kapitel 5
Helene Bech öffnete schnell die Tür zu ihrer Reihenhauswohnung, als Line klingelte.
„Hej Helene. Wir kommen von der Regionalzeitung Nordseeland. Ich heiße Line Lyng und das ist mein Kollege, der Fotograf Steen Broby“, sagte Line mit sanfter Stimme.
Helene Bech überraschte sie, indem sie Platz machte und sie bat hereinzukommen. Sie sah gut aus, schulterlanges rotbraunes Haar, große, lebendige blaue Augen, leicht sonnengebräunt, wo auch immer sie das geworden war, zu dieser Jahreszeit und eine hübsche Figur, mit nettem Vorbau und Hinterteil. Line schätzte sie auf Ende dreißig, also ungefähr so alt wie Line selbst. Helene Bech strahlte eine Menge Energie aus und redete einfach drauf los, während sie die beiden in die Stube führte.
„Es ist einfach schrecklich, dass ich nicht weiß, wo meine Mädchen sind, aber ich tröste mich damit, dass sie zusammen sind, und es wird ja wohl kaum beiden etwas ganz Fürchterliches passiert sein?“
Die Frage, die eher wie eine Feststellung klang, stand unbeantwortet im Raum. Bevor Line es schaffte, eine nichtssagende Antwort zu formulieren, redete Helene Bech weiter.
„Ich bin schon bei den Nachbarn gewesen, die um diese Tageszeit daheim sind und gleich, um 11 Uhr, gehen wir hinaus in den Wald und suchen sie. Später, zur Feierabendzeit, gehe ich noch einmal zu denen, die ich jetzt nicht erreicht habe. Die Leute wollen wirklich helfen.“
Line begriff, dass Helene Bech nervös war und ihr Redeschwall vielleicht verhindern sollte, dass sie zusammenbrach.
Sie fragte, ob sie sich setzen dürften und Helene Bech entschuldigte sich und bat sie in den beigen Stofflehnstühlen Platz zu nehmen, die zum Ecksofa passten.
Sie setzte sich ihnen gegenüber auf das Sofa, zwischen ihnen stand ein Sofatisch aus dunklem Holz, der alt aussah, aber möglicherweise bei IKEA in der Abteilung für Möbel in Patinaoptik gekauft worden war, dachte Line. Von so etwas verstand sie nichts. Auf dem Tisch stand eine große Bambusschale mit Äpfeln und Birnen, daneben lagen eine Fernbedienung und eine ungelesene Ausgabe der aktuellen Politiken.
„Ich bin Lehrerin der 10. Klasse in Hillerød, aber ich habe mich heute krankgemeldet.“
Line nickte und sagte, dass das vollkommen nachvollziehbar sei in Anbetracht der Situation. Steen sah sich diskret um, zweifelsohne auf der Suche nach einem fotogenen Hintergrund in Helene Bechs Wohnzimmer.
„Wann hast du angefangen, dir Sorgen um deine Töchter zu machen?“, fragte Line einleitend, während sie den Block und einen Kugelschreiber aus der Tasche angelte.
„Das begann gegen halb zehn, als sie nicht heimkamen. Ich hatte vorher mit Nikoline gesprochen, als sie anrief, um zu fragen, ob sie im Club essen dürften. Da sagte sie nur, dass wir uns sehen würden, wenn der Club schließt.“
Helene kreuzte die Arme, wie um sich gegen das Undenkbare zu schützen, dass ihren Mädchen etwas passiert sein könnte.
„Ich habe sie immer wieder angerufen. Alle beide. Nannas Handy ist aus, Nikolines klingelt einfach… Das passt nicht zu Nikoline, nicht ranzugehen. Sie ist sehr pflichtbewusst und achtet darauf, mir Bescheid zu geben, wenn es eine Planänderung gibt. Nanna ist da… Wie soll ich sagen… Etwas nachlässig. Sie ist viel widerspenstiger und will gerade alles diskutieren. Und reizt meine Geduld aus, wenn man das so sagen kann. Ich hoffe einfach, dass sie Nikoline überredet hat, zu einer Freundin mitzugehen. Oder meinetwegen einem Jungen. Sie hat angefangen sich für Jungen zu interessieren und vielleicht hat sie gesagt, dass ich es erlaubt hätte. Aber das ist vielleicht einfach naiv von mir. Vielleicht ist ihnen etwas passiert, es wirkt nur so unwahrscheinlich, dass es beiden passiert ist. Ich muss auf jeden Fall etwas tun, ich kann nicht nur hier rumsitzen und warten, dass das Telefon klingelt.“
„Wo ist der Vater der Mädchen?“
„Wir haben uns vor beinahe zehn Jahren scheiden lassen und er ist in die USA gezogen. Nanna und Nikoline besuchen ihn zweimal im Jahr. Ich habe ihn noch nicht informiert. Es gibt ja keinen Grund, die Pferde scheu zu machen, wenn die Mädchen einfach wieder auftauchen.“
„Ist vor Kurzem etwas passiert, das dazu geführt haben könnte, dass die beiden nicht nach Hause gekommen sind? Habt ihr euch gestritten oder so etwas?“
Helene zögerte etwas, bevor sie antwortete.
„Wenn nur Nanna verschwunden wäre, hätte ich es vielleicht damit erklären können, dass sie sich von mir entfernt und unentwegt ein Fragezeichen hinter die Regeln setzt, die ich vorgebe. Wir haben viele Diskussionen. Aber Nikoline würde nie einfach wegbleiben ohne Bescheid zu sagen.“
Helene Bech lehnte sich zurück und ihr Blick fixierte etwas draußen im Fenster.
„Die beiden sind immer zusammen gewesen, hatten dieselben Freunde und Interessen. Als sie kleiner waren, wohnten wir in Hornbæk und beide gingen zum Jollensegeln und später zum Handball. In den Sommerferien während der Grundschulzeit waren sie eine Woche lang im Ferienlager draußen in Gurre. Sie sind immer zusammen nach der Schule heimgekommen oder zusammen in den Club gegangen. Aber das begann sich zu ändern. In der letzten Zeit hat Nanna Freunde gefunden, mit denen Nikoline nichts zu tun hatte. Es wirkt, als wären Nannas neue Freunde so ein paar coole Typen, mit denen Nikoline nichts gemeinsam hat. Nanna ist auch nicht mehr immer dabei, wenn Nikoline aus der Schule heimkommt. Die Mädchen und ich trinken nachmittags eine Tasse Tee und essen ein wenig Knäckebrot, aber in letzter Zeit waren das recht oft nur noch Nikoline und ich, die das gemacht haben. Das ist natürlich in Ordnung, sie werden ja älter und es ist völlig normal, dass sie unterschiedlich sind, obwohl sie Zwillinge sind. Es ist nur schwer, sich daran zu gewöhnen. Aber gestern Abend waren sie auf jeden Fall gemeinsam im Club und jetzt sind sie weg. Alle beide.“
Helene Bech drehte den Kopf und blickte Line mit Tränen in den Augen an. Line dachte, es sei an der Zeit, das Interview zu beenden, sie wollten ja noch ein paar Bilder machen und darum bedankte sie sich bei Helene Bech.
Sie hatte einiges auf ihrem Block notiert und überließ Helene und Steen einander. Steen hatte gefragt, ob er Helene in den Zimmern der Mädchen fotografieren dürfe, also waren sie nach oben gegangen, während Line in der Stube geblieben war und daran dachte, wie es ihr wohl ginge, wenn Mikkel eine ganze Nacht verschwunden wäre. Er war natürlich noch etwas jünger, aber dennoch. Wäre sie erfüllt von überschäumender Energie, die sie in Handlungskraft umsetzen würde, so wie Helene Bech? Oder würde sie steif vor Angst daheim sitzen und über das Telefon wachen? So etwas konnte man unmöglich vorhersagen. Hoffentlich würde sie es nie erfahren.
Line schaute auf ihr Telefon. Lars Hansen hatte ihr eine SMS geschickt, während ihr Telefon lautlos geschaltet war. Er wollte wissen, ob sie etwas Handfestes für die morgige Ausgabe der Zeitung habe.
Line schrieb zurück: „Bin bei der Mutter. Hab ein Interview bekommen. Schau mich noch in der Gegend um und komme dann zurück.“ Nur einen Augenblick später eine neue SMS. „Bravo!“ stand da nur. Und Line konnte fühlen, wie ihr das seltene Lob guttat.
Steen und Helene kamen die Treppe hinunter und gingen hinaus, dort schoss Steen noch ein letztes Bild. Line legte ihren Block und ihr Telefon in die Tasche und ging ebenfalls hinaus.
„Danke, dass du mit uns gesprochen hast“, sagte sie zu Helene.
Sie überlegte etwas zu sagen, wie dass sie hoffte, dass die Mädchen bald heimkämen oder so etwas, aber sie kam auf keine Formulierung, die nicht völlig daneben klang.
„Dürfen wir vielleicht noch einmal wiederkommen?“, fragte sie stattdessen.
„Ja, das dürft ihr“, antwortete Helene Bech und winkte zum Abschied.
Es war immer gut, einmal vorzufühlen, ob man sich noch mal melden durfte. Das machte es beim nächsten Mal leichter, falls – oder wohl eher sobald – sie Helene Bech noch einmal sprechen wollten. Denn egal, ob die Mädchen unbeschadet nach Hause kämen, oder ob ihnen etwas zugestoßen war, würde Line sich wieder bei der Mutter melden. Sie hoffte, dass es dann darum ging, die glückliche Wiedervereinigung der Mutter mit ihren Töchtern zu beschreiben.
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