„Ich kenne jedenfalls gemütlichere. Aber eins ist sicher …“ Brüsk brach er seine Rede ab und spähte angestrengt in die Dunkelheit. „Achtung! Aufgepaßt!“ zischte er leise.
Neben Larsen stand ein Mann. Er schien den Schriftsteller etwas zu fragen. Richtig, Larsen antwortete.
„Jetzt geht’s gleich los!“ raunte Raymond aufgeregt.
O’Kelly winkte ärgerlich ab. Alle seine Sinne waren gespannt bis aufs äußerste. Gleich einer schwarzen Katze kauerte er sprungbereit am Boden. Seine Augen flackerten, und der Herzschlag schien sekundenlang auszusetzen. Da! der Unbekannte hatte Larsen das Paket abgenommen und ging weiter — direkt auf O’Kelly zu. Man hörte ihn mit leiser Stimme etwas singen. Einige Worte eines bekannten Schlagers erreichten das Ohr des Kriminalbeamten.
Der Mann ging mit leicht schwankendem Schritt und fuchtelte mit der rechten Hand im Takt zu dem Liede. Nur noch zwei Schritte war er von seinem Beobachter entfernt. Wie aus dem Boden gewachsen stand O’Kelly vor ihm.
„Hände hoch!“ brüllte er. In den Rücken des Fremden bohrte sich der Lauf von Raymonds Revolver.
„Hände hoch!“ wiederholte O’Kelly nachdrücklich.
Langsam leistete der Unbekannte der Aufforderung Folge.
„Allright!“ rief der Kriminalbeamte triumphierend.
Plötzlich knallten fast gleichzeitig zwei Schüsse.
„Was ist das?“ fuhr O’Kelly auf.
Ein lauter Schrei tönte schrill und häßlich durch die Nacht. Dumpfes Getrampel ward hörbar.
„O’Kelly!“ keuchte jemand. „Schnell!“
„Sind Sie es, Taube?“
„Ja. Etwas Furchtbares ist geschehen!“
O’Kelly hörte kaum noch hin.
„Halten Sie den Kerl fest!“ schrie er auf Raymond ein. Dann rannte er in der Richtung zu Larsen. Die Stelle, wo sich soeben noch Larsens Gestalt am Brückengeländer abgezeichnet hatte, war leer. Am Boden aber lag etwas Schwarzes, Unnatürliches.
O’Kelly beugte sich erregt darüber. Seine Blendlaterne blitzte auf.
Larsen röchelte.
„Er hat geschossen,“ flüsterte er. „Ich habe Schmerzen.“ Das Hemd auf seiner Brust war rot gefärbt.
Der Kriminalbeamte zog die Signalpfeife. Ein schriller Pfiff gellte.
Aus der Ferne hörte man das Knattern des anfahrenden Polizeiautos. Wenige Minuten darauf war die Brücke durch die Scheinwerfer des Wagens hell erleuchtet. Der Polizeiarzt bemühte sich um Larsen. Zwei Polizisten aber hielten einen Mann von großer Statur fest, der aus blöden, verwunderten Augen vor sich hinstarrte. In seiner Linken hielt er noch immer krampfhaft das Paket mit den Ansichtskarten.
Taube eilte aufgeregt zu O’Kelly.
„Ich glaube, etwas Unvorhergesehenes ist eingetreten,“ stöhnte er.
„Natürlich!“ rief jener wütend. „Wer hat denn auf Larsen geschossen? Sie müssen es doch gesehen haben?“
Taube nickte gewichtig.
„Es war der zweite Mann.“
„Was? Welcher zweite Mann?“ fragte O’Kelly hastig und beunruhigt.
„Als der erste von Larsen das Paket nahm,“ erklärte der Wachtmeister, „ging an uns ein anderer Mann vorüber. Während Sie den ersten anhielten, war er gerade bei Larsen angelangt, und dann hörten wir zwei Schüsse. Weiter weiß ich nichts.“
„Aber, Teufel noch mal, wo blieb denn der Mann?“
„Er lief doch in der Richtung zu Ihnen.“
O’Kelly sah Taube bestürzt an.
„In der Richtung zu mir? Dann bin ich selbst schuld. Ich dachte, Sie wären es und ließ ihn laufen, ich Esel!“
„Und ließen ihn laufen, Sie Esel!“ wiederholte Taube enttäuscht. „Oh, Entschuldigung,“ fügte er erschrocken hinzu, „das Wort entschlüpfte mir gegen meinen Willen.“
„Macht nichts,“ wehrte O’Kelly bitter ab. „Es ist ein äußerst treffender Ausdruck.“
„Was nun?“ fragte Taube ratlos.
Der Inspektor zuckte die Achseln.
„Der Karo König ist uns jedenfalls entwischt. Wir können uns nur an den festgenommenen Kerl dort halten. Eine etwas teuer bezahlte Ausbeute dieser Nacht.“
Dann machte sich O’Kelly an die Arbeit. Es gab viel zu tun. Der Transport des Verwundeten mußte überwacht, Anordnungen wegen des festgenommenen Verbrechers getroffen werden. Auch galt es, die durch den Lärm und das Licht herbeigezogenen Neugierigen fernzuhalten. Die Brücke wurde von beiden Seiten abgesperrt; zunächst durfte sie niemand betreten. O’Kelly war gerade mit allen diesen Maßnahmen fertig geworden, als er neben dem Polizeiauto einen Herrn gewahrte, der beim Schein der Wagenlampen emsig schrieb. Rasch ging er auf ihn zu. Da bemerkte er, daß es Elst war.
„Was machen denn ausgerechnet Sie hier, Herr Elst?“ rief der Inspektor unwillig.
Elst hielt es nicht für notwendig, auch nur den Kopf zu heben.
„Ich arbeite. Sehen Sie denn das nicht? Die Sache lohnt sich. Wird ein feiner Artikel. Das haben Sie glänzend arrangiert! Ein Verhafteter, ein Verwundeter — wie auf Bestellung!“
„Erlauben Sie mal …“
„Wie überschreibe ich doch am besten die Geschichte?“ fuhr Elst, ohne sich stören zu lassen, fort. „Mitternächtlicher Brückenkampf? Ist etwas zu zahm. Vielleicht …“
„Hören Sie mal,“ unterbrach ihn O’Kelly unwirsch. „Was Sie da schreiben, interessiert mich nicht. Sagen Sie mir lieber, — wie kommen Sie eigentlich hierher?“
„Ich bin immer dort, wo was los ist,“ erwiderte der andere selbstbewußt. „Ich bin der tüchtigste Reporter unseres Blattes; und unser Blatt ist das beste der Welt. Haben Sie das Berliner Tageblatt eigentlich schon abonniert? Wenn nicht, so rate ich Ihnen, sich zu beeilen …“
„Zum Donnerwetter! Was geht mich Ihr Berliner Tageblatt an? Sie scheinen mich absolut nicht verstehen zu wollen. Ich werde mal deutlicher sein: Jeder, der sich jetzt hier auf der Brücke befindet und nicht einwandfrei nachweisen kann, wo er war, als die Schüsse fielen, oder daß er die Brücke erst später betrat, steht unter dem Verdachte, Larsen verwundet zu haben.“
Elst nickte energisch.
„Danke! Danke! Bitte weiter!“
„Was heißt ‚weiter‘?“ fragte O’Kelly verblüfft. „Verstehen Sie denn nicht?“
„Doch, doch. Habe alles notiert. Kommt alles genau so in die Zeitung. Interview des Kriminalinspektors Mac O’Kelly. Sehr spannend! Bitte, fahren Sie fort!“
„So was ist mir doch noch nicht vorgekommen!“ rief O’Kelly zornig. „Ich habe jetzt keine Zeit mehr. Sie müssen mit auf die Wache. Dort unterhalten wir uns noch über den Fall, mein Herr!“
„Zu liebenswürdig, Inspektor,“ pflichtete Elst bei. „Werde nicht verfehlen, Ihr Entgegenkommen der Presse gegenüber lobend zu erwähnen. Etwa so: Inspektor O’Kelly war so freundlich, unseren Mitarbeiter, zwecks genauerer Informierung, in zuvorkommender Weiseim Polizeiwagen auf die Wache mitzunehmen. Dieser Beamte …“
„Taube!“ rief O’Kelly plötzlich. „Hier, bleiben Sie mal an Elsts Seite. Versuchen Sie ihm inzwischen auseinanderzusetzen, daß er zwangsweise sistiert ist. Er versteht’s nämlich nicht.“
Taube nickte, dann wandte er sich an den Reporter:
„Sie sind sistiert! Verstanden?“ erklärte er mit berechtigter Entschiedenheit.
Elst überhörte die Frage vollkommen. Er hatte sein Stenogrammheft gezückt und notierte ruhig weiter, wobei er die Worte laut vor sich hinsprach:
„Dieser Beamte ist bei seiner bekannten Tüchtigkeit ein äußerst netter und leutseliger Mensch. Sein urwüchsiger Humor ist geradezu unübertrefflich. Selbst in den heikelsten Situationen hat er immer ein fröhliches Scherzwort auf den Lippen. So sagte er zum Beispiel unserem Mitarbeiter, während die Signale gellten, die Automobile knatterten und der Verwundete stöhnte … Sind Sie zufrieden, O’Kelly? Der Artikel wird hervorragend!“
Jetzt erst schien Elst dessen gewahr zu werden, daß sich O’Kelly längst nicht mehr an seiner Seite befand.
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