Die Verfolgung dauerte nicht lange, denn schon nach etwa fünf Minuten betrat Eggert ein kleines Kaffeehaus. Tom vergewisserte sich mit einem raschen Blick, daß es hier keinen zweiten Ausgang gab; dann lief er an den Fenstern des Hauses entlang, bis es ihm glückte, eine Ritze in den Vorhängen zu finden, durch die er das Innere des Lokals übersehen konnte.
Eggert stand nicht weit von dem Fenster und hielt den Hörer des Fernsprechers in der Hand.
Tom biß die Zähne zusammen. Hastig sah er sich um: kein Mensch in der Nähe. Seine Rechte fuhr in die Tasche. Gleich darauf beschrieb er mit der Hand einen Kreis an der Fensterscheibe. Unschwer löste er mit gegen die Scheiben gepreßtem Kitt die herausgeschnittenen Scherben. Dann bückte er sich und lauschte fiebernd vor Erregung.
Eggerts Stimme war ruhig und klar. Er mußte bereits mitten im Gespräch sein, als Tom auf seinem Lauscherposten verstehen konnte, was er in den Apparat sprach.
„… denn ich habe wenig Zeit. Also, O’Kelly, passen Sie auf! Ich habe einwandfreie Nachrichten darüber, daß der Karo König heute abend auf der Brücke nicht persönlich erscheinen wird. Unsere Maßnahmen zu seiner Festnahme sind somit zwecklos. Sie würden ihn dadurch nur vorsichtiger machen. Wir wollen also lieber den Plan auf ein anderes Mal verschieben. Was? Wie? Oh, Pardon! Entschuldigen Sie bitte. Hier spricht Kriminalinspektor Vogel. Ja! ’n Abend!“
Eggert hängte ein, und am anderen Ende der Leitung folgte O’Kelly verblüfft seinem Beispiel. Er war über die Maßen verwundert, denn ein Kriminalinspektor Vogel war ihm völlig unbekannt.
Eggert war auf die Straße getreten. Als er um die Ecke bog, lugte er kaum merklich nach der Seite, wo Tom noch immer auf seinem Lauscherposten stand. Ein pfiffiges Lächeln auf den Lippen, schritt Eggert vergnügt aus.
„Intelligenz siegt immer über brutale, rohe Kraft!“ dachte er. „Meine Rechnung war richtig!“
Irgendwo mußte diese Rechnung aber doch einen Fehler haben. Denn im selben Augenblick brach Eggert, ohne einen Laut hervorzustoßen, blutüberströmt zusammen, während Tom sich in höchster Eile entfernte.
O’Kelly saß an seinem Schreibtisch und arbeitete. Er hatte dazu eine ganz besondere Methode: eine Menge kleiner Zettel lag vor ihm; auf jedem standen Stichworte, die irgend eine feststehende Tatsache oder zwingenden Schluß andeuteten, die mit dem ihn augenblicklich interessierenden Fall zusammenhingen.
Wenn er nun eine bestimmte Theorie auf ihre Möglichkeit und Brauchbarkeit untersuchte, so rückte er alle diejenigen Zettel zusammen, die sich mit dieser Theorie in Einklang bringen ließen. Dann schrieb er seine theoretischen Mutmaßungen fein säuberlich in ein besonderes Heft und vermerkte mit einer Ziffer die Anzahl der damit übereinstimmenden Tatsachen. Er hielt dieses sonderbare System für das beste Mittel, sich vor Beeinflussung durch eine vorgefaßte Meinung zu schützen und nahm seine Tätigkeit, die mehr einem Spiel als Arbeit glich, äußerst ernst.
Heute schien er jedoch mit den Ergebnissen seiner Untersuchung nicht recht zufrieden. Seine Augenbrauen waren finster zusammengezogen, und die Finger der einen Hand trommelten nervös auf der Tischplatte herum, während er mit der anderen die Zettel ziemlich planlos hin- und herrückte.
Wachtmeister Taube, der wie üblich, ein Buch vor der Nase, in dem Schaukelstuhl lehnte, sah wiederholt von seiner Lektüre auf und betrachtete den Inspektor bedauernd und mitleidig.
„Wann gehen wir zur Brücke?“ fragte er, offensichtlich mit dem einzigen Zweck, eine Frage zu stellen, denn er kannte den Zeitpunkt ganz genau.
„Um halb zehn,“ sagte O’Kelly kurz, ohne aufzublicken. „Stören Sie mich nicht!“
Taube schwieg einige Minuten. Dann begann er wieder:
„Wie alt sind Sie eigentlich, O’Kelly?“
„Ich werde siebzig!“ sagte jener ärgerlich. „Sie sollen mich jetzt in Ruhe lassen!“
„Hm …“ Taube schien bereits über die nächste Frage nachzudenken. Da ihm aber nichts passendes einfiel, steckte er den Kopf wieder in sein Buch. Doch gleich darauf blickte er freudig auf. „Q’Kelly!“ rief er triumphierend. „Hier steht ein komischer Satz — lateinisch, glaube ich. Was heißt — ‚errare humanum est‘?“
„Seid menschlich mit den Irren!“ erwiderte der andere grob. Wütend raffte er die kleinen Zettel zusammen und warf sie in ein Schreibtischfach. „Sie sind unverbesserlich, Taube,“ fuhr er ruhiger fort. „Übrigens wird es jetzt Zeit, daß wir gehen. Wir wollen Dr. Raymond nicht unnötig warten lassen.“
Mit einem Seufzer der Erleichterung klappte Taube sein Buch zu und streckte behaglich seine Glieder.
„Das ist fein,“ sagte er zufrieden. „Es ist immer sehr langweilig, wenn Sie arbeiten.“
„Und immer sehr störend, wenn Sie dazwischenreden. Wann heiraten Sie denn endlich? Ich freue mich riesig darauf — dann habe ich nämlich Ruhe.“
Taube zuckte resigniert die Achseln.
„Ich heirate, wenn die Möbel bezahlt sind. Ich habe sie auf Stottern gekauft, wissen Sie.“
O’Kelly lachte auf.
„Auf Stottern gekauft! Fabelhaft! Dauert das lange?“
„Gekauft habe ich die Möbel in einer Stunde, dagegen zahle ich schon ein Jahr lang daran,“ entgegnete Taube etwas mißgelaunt.
Sie waren inzwischen auf die Straße getreten. O’Kelly blickte suchend umher. Es dauerte aber keine zwei Minuten, als auch schon ein eleganter, großer Buick vorfuhr und Dr. Raymond die Kriminalbeamten aufforderte, einzusteigen.
Unterwegs erklärte O’Kelly seinen Schlachtplan. Als sie bei der Brücke anlangten, kannte jeder genau die ihm in dem nächtlichen Schauspiel zugedachte Rolle. O’Kelly lief noch eine Weile geschäftig hin und her; dann war alles geordnet, und es wurde still und ruhig.
An dem Brückengeländer lehnte die dunkle Gestalt Hans Larsens. Es regnete und stürmte. Irgendwo in der Ferne blinkte ein schwaches Licht, während die Brücke selbst völlig im Dunkeln lag.
Hinter einem Pfeiler verborgen kauerten O’Kelly und Dr. Raymond. Auf der andern Seite hatte Taube mit einem Kollegen seinen Platz eingenommen. Alles war so angeordnet, daß, wer auch immer zu Larsen wollte, erst eine der Gruppen passieren mußte und sich dann zwischen zwei Feuern befand. Larsen selbst hielt in der linken Hand ein großes Paket, das jedoch nicht Hundertmarkscheine, sondern Ansichtskarten enthielt. Seine Rechte aber umklammerte, in der Manteltasche verborgen, den Griff eines entsicherten Brownings.
O’Kelly hatte alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Sein Plan war bis aufs i-Tüpfelchen durchdacht. Etwa hundert Meter von der Brücke entfernt, harrte ein großer, vollbesetzter Wagen des Überfallkommandos eines Zeichens, und unter der Brücke lag sogar ein Polizeimotorboot, um dem Karo König auch den Weg übers Wasser abzuschneiden.
„Wenn wir ihn nicht kriegen, muß der Teufel seine Hand im Spiele haben,“ flüsterte O’Kelly.
Dr. Raymond fröstelte.
„Beim Karo König hat der Teufel schon manchmal seine Hand im Spiele gehabt,“ sagte er leise. „Ich glaube übrigens gar nicht, daß er selbst kommen wird.“
„Doch,“ widersprach O’Kelly bestimmt. „Ich wurde heute von einem Anonymus angerufen, der sich Kriminalinspektor Vogel nannte. Er versuchte mir einzureden, daß der Karo König nicht kommen würde. Es ist doch ganz klar, daß dies ein Komplice gewesen ist, wenn nicht gar der Karo König selbst, der auf diese ungeschickte Weise mich von der Spur abbringen wollte.“
„Möglich,“ entgegnete Raymond nachdenklich. „Mir scheint aber hier etwas nicht ganz zu stimmen. — Zum Kuckuck, dieser Regen!“
Er schlug den Mantelkragen höher. „Eine etwas ungemütliche Situation, finden Sie nicht auch?“
O’Kelly zuckte die Achseln.
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