
Abb. 5: Das Königstor in Hattuscha (Detail des göttlichen Kriegers)
I
Der Fluch der bösen Tat
1. König Muršili öffnet ein Fenster
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung wütet im Lande Hatti, dem auf dem Gebiet des heutigen Anatolien gelegenen Hethiterreich, 12die Pest. Als die Plage nacheinander den eigenen Vater (Šuppiluliuma I.) und Bruder (Arnuwanda II.) dahinrafft, bekennt der in Hattuscha residierende Großkönig Muršili II. – ein Zeitgenosse der beiden letzten Amarnakönige Tutanchamun und Eje – öffentlich seine Seelenpein. Die nicht enden wollende Not lehrt ihn beten. In einem sogenannten »Pestgebet« wendet er sich an den Dynastiegott sowie die übrigen Götter des Landes. In der doppelten Rolle des Königs, der das Leben und Überleben (von Menschen, Tieren und Pflanzen) in seinem Herrschaftsbereich zu schützen hat, und des obersten Priesters, der den Göttern nahe ist und den gesamten Ritualbestand an seiner Seite weiß, bittet er um ein Ende des Unheils.
Wettergott von Hatti, mein Herr, und ihr anderen Götter von Hatti, meine Herren. Es sandte mich Muršili, der Großkönig, euer Diener: Geh und sprich zu dem Wettergott von Hatti, meinem Herrn, und zu den andren Göttern folgendermaßen:
Das ist es, was ihr getan habt: in das Land Hatti habt ihr eine Pest hineingelassen, und das Land Hatti wurde von der Pest überaus hart bedrückt.
Und wie es zur Zeit meines Vaters dahinstarb und zur Zeit meines Bruders und wie es, seit ich Priester der Götter wurde, nun auch vor mir dahinstirbt, das ist nun das zwanzigste Jahr. Und das Sterben, das im Lande Hatti herrscht, und die Pest wird von dem Lande noch immer nicht genommen.
Ich aber werde der Pein im Herzen nicht Herr. Der Angst in der Seele aber werde ich nicht mehr Herr.
Hier hadert kein Hiob mit seinem Schicksal. Wenn Muršili feststellt, dass die Götter die Pest in das Land gelassen haben, dann sind seine Worte von jedem Vorwurf frei. Er weiß die Verhängung des Unheils als Strafaktion einer zürnenden Gottheit zu deuten und er kennt die Voraussetzung, unter der allein eine Wende zum Heil vollzogen werden kann. Die von den Göttern erbetenen Machterweise hängen von der Offenlegung eines verschwiegenen Schuldzusammenhanges ab. Nur so kann der Fluch der bösen Tat aufgehoben werden. Der König befragt deshalb in einem zweiten Schritt das Orakel, um die Schuld herauszufinden beziehungsweise die Schuldigen benennen zu können, deren Handeln den Anlass für den Ausbruch der Pest gegeben hat. Die Auskunft verweist auf zwei »alte Tafeln« mit verbindlichen Vereinbarungen. Die eine verpflichtet das Land zu Opferriten für den Fluss Mala (den Euphrat), die aufgrund der Pest vernachlässigt wurden; die andere handelt von einem Vertrag mit Ägypten, der dem kulturellen Gedächtnis der Hethiter als »Vertrag mit den Leuten von Kuruštama« eingeschrieben ist – ein undurchsichtiger (wahrscheinlich in die Zeit Amenophis’ II. zurückgehender) Vorgang, bei dem »der Sturmgott Söhne des Hatti-Landes gepackt und sie nach Ägypten geführt hatte und sie hatte Ägypter werden lassen«. Dieser eidlich besiegelte Freundschaftsvertrag – der kleine Vorläufer des großen paritätischen Staatsvertrages, den Ramses II. und Huttuschili III. anderthalb Jahrhunderte später miteinander geschlossen haben – erklärt unter anderem, warum Muršilis Vater »seinem Bruder« Amenophis IV.-Echnaton anlässlich der Thronbesteigung gratulierte (wie wir aus einem der berühmten Amarna-Briefe wissen). Anderthalb Jahrzehnte später wurde der Vertrag jedoch von demselben Šuppililiuma verletzt, und zwar unmittelbar vor Ausbruch der Pest.
Der Sturmgott von Hatti brachte die Leute von Kuruštama nach Ägypten und schloss einen Vertrag über sie mit den Hethitern, so dass sie ihm unter Eid standen. Obwohl nun sowohl die Hethiter als auch die Ägypter dem Sturmgott eidlich verpflichtet waren, ignorierten die Hethiter ihre Verpflichtungen. Sie brachen den Eid der Götter. Mein Vater sandte Truppen und Wagen, das Land Amqa, ägyptisches Gebiet, anzugreifen. Die Ägypter aber erschraken und baten sogleich um einen seiner Söhne, das Königtum zu übernehmen. Aber als mein Vater ihnen einen seiner Söhne gab, töteten sie ihn, während sie ihn dorthin brachten. Mein Vater ließ seinem Zorn freien Lauf, er zog gegen Ägypten in den Krieg und griff es an. Er schlug die Truppen und Streitwagen des Landes Ägypten. Der Sturmgott von Hatti, mein Herr, gab meinem Vater durch seinen Ratschluss den Sieg; er besiegte und schlug die Truppen und Wagen des Landes Ägypten. Aber als sie die Gefangenen nach Hatti brachten, brach eine Pest unter ihnen aus, und sie starben.
Als sie die Gefangenen nach Hatti brachten, brachten diese Gefangenen die Pest in das Land Hatti. Von dem Tage an sterben die Menschen im Lande Hatti. Als ich nun die Tafel über Ägypten gefunden hatte, ließ ich darüber das Orakel befragen: »Diese Vereinbarungen, die der hethitische Sturmgott machte, nämlich dass die Ägypter ebenso wie die Hethiter vom Sturmgott unter Eid genommen wurden, dass die Damnassaras Gottheiten im Tempel anwesend waren, und dass die Hethiter sogleich ihr Wort gebrochen hatten – ist das vielleicht der Grund für den Zorn des Sturmgottes von Hatti, meines Herrn?« So wurde es bestätigt.
Was Muršili hier liefert, ist nicht weniger als die Eröffnung eines sakralrechtlichen Verfahrens. 13Mit einer (wie immer fragmentarischen) Rekonstruktion der relevanten Ereigniskette wird einerseits die moralische Schlussfolgerung, dass Unheil auf Schuld beruht, konkret belegbar; andererseits ist ein Ausweg aus der Notlage in Sicht. Der Zusammenhang von Tun und Ergehen liegt in der Hand der Götter, die Menschen können ihn aber erkennen und durch Sühneriten beeinflussen. Der Krieg Hattis gegen Ägypten stellt offensichtlich einen eklatanten Vertragsbruch dar. Mit dieser politischen Sünde hat der verantwortliche hethitische Herrscher, König Šuppiluliuma, den Zorn der Götter heraufbeschworen und den Ausbruch der Pest verschuldet. Muršili zögert nicht, ein umfassendes Sündenbekenntnis abzulegen, das bemerkenswert vor allem deshalb ist, weil es beim Schuldvorwurf an den Vater nicht stehen bleibt, sondern ausdrücklich die eigene Schuldübernahme einschließt. Natürlich ist beider Schuld nicht Sache der privaten Biographie, sondern des offiziellen Regierungshandelns, dessen Folgen und Nebenfolgen auf den jeweiligen Amtsnachfolger übergehen. Im Lichte der Staatsräson ist das skrupulöse Verhalten, das König Muršili an den Tag legt, deshalb auch nicht ruinös (im Sinne von rufschädigend), sondern im Gegenteil staatstragend, weil Schaden vom Lande abwendend.
Hattischer Wettergott, mein Herr, und ihr Götter, meine Herren, es ist so: Man sündigt. Und auch mein Vater sündigte und übertrat das Wort des hattischen Wettergottes, meines Herrn. Ich aber habe in nichts gesündigt.
Es ist aber so: Die Sünde des Vaters kommt über den Sohn. Auch über mich kam die Sünde des Vaters.
Ich habe sie nunmehr dem hattischen Wettergott, meinem Herrn, und den Göttern, meinen Herren, gestanden: Es ist so, wir haben es getan. Und weil ich nun meines Vaters Sünde gestanden habe, soll sich dem hattischen Wettergott, meinem Herrn, und den Göttern, meinen Herren, der Sinn wieder besänftigen.
Seid mir wieder freundlich gesinnt und jaget die Pest wieder aus dem Lande Hatti hinaus.
Abb. 6: Eine in Boghazköy gefundene Tontafel
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