4. Halo- oder Hof-Effekt
Gemeint ist damit die Neigung eines Beurteilers, sich in der Beurteilung oder Beobachtung einer einzelnen Persönlichkeitseigenschaft vom Gesamteindruck oder von einer hervorstechenden Eigenschaft beeinflussen zu lassen. Die vorgefasste Meinung über ein Kind beeinflusst die Erzieherin bei der Einschätzung einzelner Merkmale dieses Kindes. Der Halo-Effekt hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem logischen Fehler. In beiden Fällen werden die Beobachtung und Beurteilung eines Merkmals durch bereits vorhandene Kenntnisse oder Meinungen verzerrt. Eine Abgrenzung ist jedoch dahingehend möglich, dass es beim Halo-Effekt um die Zusammengehörigkeit von Eigenschaften eines Individuums geht, während sich der logische Fehler auf die Affinität verschiedener Merkmale losgelöst von einem einzelnen, konkreten Individuum bezieht. Der logische Fehler ist vergleichsweise abstrakt. Er bedarf nicht des Bezugs zu einer realen Person, sondern zu einer mehr oder weniger naiven Persönlichkeitstheorie.
5. Kontrastfehler
Ein Kontrastfehler liegt vor, wenn die zu beurteilende Person im Kontrast zur Person des Beurteilers erlebt wird. Er umschreibt die Tendenz, eine Person hinsichtlich eines bestimmten Merkmals gegenteilig zu sich selbst zu beurteilen. So mag ein Beobachter, der sich selbst für einen ordentlichen, korrekten und systematisch arbeitenden Menschen hält, die beobachtete Person leicht als unordentlich und schlampig einschätzen.
6. Fehler der räumlichen/zeitlichen Nähe
Vom Beurteiler wird das als ähnlich bewertet, was räumlich oder zeitlich nahe beieinander beobachtet wird. Es kann sogar der Fall eintreten, dass in raumzeitlicher Nähe Liegendes als sinnvoll oder gar als kausal zusammengehörig betrachtet wird. Die momentanen Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes werden z. B. vorschnell mit der kürzlich erfolgten Scheidung der Eltern erklärt.
7. Gutachten, Befund oder Beobachtungsbericht als Fehlerquelle
Muss ein Bericht oder ein Gutachten angefertigt werden, so können bei der Übersetzung der diagnostischen Daten in den schriftlichen Bericht Verzerrungen auftreten. Die schriftliche Fixierung von Beobachtungen und Untersuchungsergebnissen führt häufig zu einer Verkürzung, da manches als nebensächlich oder unwichtig erachtet wird. Beurteiler sind meist bemüht, einen in sich stimmigen Bericht abzugeben. Dazu können Details, die nicht passen, unterdrückt oder an Stellen, wo Einzelheiten zur Herstellung eines Zusammenhangs notwendig wären, neue nicht diagnostizierte hinzugefügt werden.
Bewertungs- und Beurteilungsfehler können für Paradies, Linser und Greving (2007) durch folgende Maßnahmen abgemildert werden:
• Abgleich persönlicher Beurteilungen mit Kollegenurteilen,
• Vergleich mit einer großen Zahl von Gleichaltrigen z. B. über Vergleichsarbeiten,
• systematische, regelmäßige Vergleiche über einen längeren Zeitraum,
• transparente Leistungsbeschreibung bei jeglicher Beurteilung,
• systematische Datenermittlung nach eindeutigen Regeln und eine
• ausreichende Datenmenge für Diagnosen und Gesamturteile.
Psychologische Diagnostik versteht sich als angewandte Wissenschaft und lässt sich definieren und inhaltlich fassen als Beantwortung von aus den Anwendungsfeldern stammenden Fragen und Problemstellungen, wobei auf Theorien und Erkenntnisse der verschiedenen psychologischen Disziplinen und auf vielfältige Methoden zurückgegriffen wird. Ein Prozessmodell beschreibt den Weg von der Erarbeitung einer psychologischen Fragestellung bis hin zu deren Beantwortung, wobei mit der Selektions- und Modifikationsstrategie zwei grundsätzlich verschiedene diagnostische Vorgehensweisen unterschieden werden.
Jede Diagnostik bedarf bestimmter Normen als Vergleichsmaßstäbe, um die gewonnenen Daten interpretieren und in ihrer Aussagekraft bewerten zu können, jeder diagnostische Akt unterliegt ethischen und rechtlichen Vorgaben und Bestimmungen und jeder Diagnostiker sollte sich bewusst sein, dass ihm eine Reihe von Bewertungs- und Beurteilungsfehlern unterlaufen kann.
3 Sonderpädagogische Diagnostik
Kretschmann (2003; 2004) zeichnet eine fachlich-historisch begründete Linie von der medizinischen über die psychologische zur pädagogischen Diagnostik, wobei er davon ausgeht, dass gerade zwischen der pädagogischen und der psychologischen Diagnostik keine scharfe Trennungslinie gezogen werden kann, sondern dass sich hier die Übergänge eher fließend gestalten, was auch in der Verwendung des Begriffs »psychologisch-pädagogische Diagnostik« durch manche Autoren zum Ausdruck kommt (Langfeldt & Tent 1999; Ricken 2005; Schuck 2000). Diese Linie ließe sich weiterführen hin zur sonderpädagogischen Diagnostik als eine bestimmte oder besondere Form pädagogischer Diagnostik und ein kurzes Verweilen auf dem Weg hin zu dieser sonderpädagogischen Diagnostik bei den Bestimmungsstücken und Problemlagen der pädagogischen Diagnostik erscheint angemessen und hilfreich.
3.1 Begriffsbestimmungen
3.1.1 Pädagogische Diagnostik
Die Diskussion zur Problematik der pädagogischen Diagnostik lässt sich treffend durch die beiden Extrempositionen kennzeichnen, die nach Bundschuh (2004) innerhalb der Pädagogik vertreten werden. Auf der einen Seite steht die Forderung nach der Abschaffung jeglicher Diagnostik, da sich durch die Diagnostik kein Gewinn für die Betroffenen ergebe und Diagnostizieren aus pädagogischer Perspektive an sich schon schädlich sei. Andererseits wird Diagnostik als ein notwendiger und integraler Bestandteil pädagogischen und didaktischen Handelns betrachtet. Ricken (2005) macht in einem geschichtlichen Rückblick eine enge Verbindung aus zwischen Veränderungsprozessen schulischer Strukturen und einem zeitweise verstärkten Interesse an der Diagnostik. Auch für Hesse und Latzko (2009) sind die Schwankungen in der Wertschätzung und Anwendung pädagogischer Diagnostik im deutschen Bildungswesen unübersehbar. So finden sich im Anschluss an die Analyse des Deutschen Bildungsrates (1970), die das Fehlen einer ausreichenden Schulung zur Erhöhung der Objektivität und Rationalität bei der Leistungsbeurteilung in der Lehrerbildung als einen wesentlichen Mangel im deutschen Bildungswesen erkennt, systematische Bemühungen zur Verbesserung der diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften. Bereits gegen Ende der 70er-Jahre tritt die »Anti-Test-Bewegung« auf den Plan, die Versuche zur Objektivierung der Schülerbeurteilung ideologisch verteufelt und wieder zu einer Reduktion der Diagnostikausbildung in Lehramtsstudiengängen beiträgt. Dem vergleichbar scheint die »Nach-PISA-Zeit« der pädagogischen Diagnostik eine deutliche Renaissance und Wiederbelebung zu bescheren, was aber nicht verhindert, dass die Skeptiker und Kritiker mit den alten Argumenten erneut in den Diskurs eintreten. Im Angesicht einer Fülle von anerkannten theoretischen und empirischen Forschungsarbeiten zur pädagogischen Diagnostik erscheinen Hesse und Latzko (2009) diese immer wieder vorgetragenen gleichen Gegenargumente eher als Vorurteile, da diese Kritik an einem wissenschaftlichen Gegenstand stattfindet, »ohne diesen Gegenstand wirklich umfassend zu kennen oder differenziert zur Kenntnis zu nehmen« (Hesse & Latzko 2009, 17).
Wendet man sich den Bestimmungsstücken der pädagogischen Diagnostik zu, stößt man auf eine übereinstimmende Begriffsdefinition, wonach pädagogische Diagnostik alle diagnostischen Tätigkeiten umfasst, »durch die bei Individuen (und den in einer Gruppe Lernenden) Voraussetzungen und Bedingungen planmäßiger Lehr- und Lernprozesse ermittelt, Lernprozesse analysiert und Lernergebnisse festgestellt werden, um individuelles Lernen zu optimieren. Zur pädagogischen Diagnostik gehören ferner die diagnostischen Tätigkeiten, die die Zuweisung zu Lerngruppen oder zu individuellen Förderprogrammen ermöglichen sowie den Besuch weiterer Bildungswege oder die vom Bildungswesen zu erteilenden Berechtigungen für Berufsausbildung zum Ziel haben« (Ingenkamp 1991, 760). Entsprechend zur psychologischen Diagnostik werden hier auch für die pädagogische Diagnostik die prozessorientierte Veränderungsdiagnostik und die statusorientierte Zuweisungs- oder Selektionsdiagnostik als grundlegende diagnostische Strategien benannt. Gerade die Selektionsstrategie gibt jedoch seit Jahren immer wieder Anlass zu dem Vorwurf, die pädagogische Diagnostik werde nur zum Zwecke der Selektion benutzt und führe lediglich zur Etikettierung von Schülern. Hesse und Latzko (2009) geben in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass Lehrkräfte auch ohne wissenschaftliche diagnostische Verfahren und Kompetenzen Schüler gleichermaßen etikettieren können oder müssen, denn nicht die Diagnostik ist für die Selektion verantwortlich, sondern das Schulsystem, das auf Selektion ausgerichtet ist.
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