1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 • Deskriptive Diagnostik: Das Ziel der beschreibenden Diagnostik ist die möglichst umfassende und genaue Darstellung eines Problems. Dabei gelangt man in der Regel zu Definitionen, die als Grundlage für ein gegenseitiges Verständnis dienen können. Mit solchen Übereinkünften, die durchaus konventionellen Charakter haben, soll einerseits sichergestellt werden, dass unterschiedliche Beobachter und Diagnostiker von ähnlichen oder gleichen Erscheinungsbildern sprechen, und wird andererseits die Zuteilung meist knapper Ressourcen gesellschaftlich geregelt. Solche konventionellen Absprachen finden sich z. B. bei den Kriterien, die das Vorliegen eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms oder einer Legasthenie begründen oder einem Menschen eine bestimmte Behinderung zuschreiben. Dabei hängt die Güte der Diagnostik sehr stark von der Klarheit und Eindeutigkeit der verwendeten Kategorien ab. Eine exakte und valide Diagnostik ist nur schwer möglich, wenn bereits die benutzte Definition eher vage ist und keine klaren Konturen zeigt.
Besonders bedeutsam sind deskriptive Diagnosen, weil mit ihrer Hilfe die Zuweisung zusätzlicher von der Solidargemeinschaft zugesagter und finanzierter Hilfen aufgrund einer bestehenden besonderen Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit nachvollziehbar geregelt wird. Wocken (1996) fasst diesbezüglich seine Erfahrungen aus Modellversuchen zur integrativen Förderung zusammen, wenn er schreibt: »Wer immer Lehrerstunden haben will, muss als Vorleistung behinderte Kinder namentlich benennen. … Die Vergabe zusätzlicher Mittel scheint nur dann gerechtfertigt, wenn die Empfänger auch nachweislich und anerkanntermaßen bedürftig sind. Damit zusätzliche Lehrerstunden für eine Klasse ohne Neid und Groll von anderen akzeptiert werden können, müssen einsichtige und nachvollziehbare Gründe angeführt werden« (Wocken 1996, 34 f.).
• Selektions- bzw. Platzierungsdiagnostik: Das Ziel der Selektions- bzw. Platzierungsdiagnostik besteht im Einordnen eines Kindes in ein vorgegebenes Funktionsraster. Es existiert ein bestimmtes Anforderungsprofil, und die diagnostische Aufgabe besteht darin, Kinder dahingehend zu untersuchen, ob ihre Eigenschaften und Kompetenzen diesem Anforderungsprofil entsprechen. Solche vorgegebenen Anforderungsbereiche können z. B. Schultypen, Berufe oder Sondereinrichtungen sein.
• Bildbarkeits- bzw. Förder(ungs)-Diagnostik: Mit der Förderdiagnostik wird nach Kobi (1990) ausgesprochen heil- oder sonderpädagogisches Terrain betreten. Als deren Aufgabe nennt er, sich Klarheit über die Bildungsmöglichkeiten eines Kindes und die damit zusammenhängenden erzieherischen und unterrichtlichen Notwendigkeiten und Zielsetzungen zu verschaffen. Diese Diagnostik ist ausgesprochen subjektorientiert, auf ein bestimmtes Kind in einer spezifischen Lebens- und Lernsituation ausgerichtet. Es gilt, die veränderungsnotwendigen und veränderbaren Entwicklungs- und Lernbereiche eines behinderten Kindes zu finden.
• Normalisierungs- und Integrations-Diagnostik: Im Rahmen der Normalisierungs- und Integrations-Diagnostik geht es nicht mehr darum, ein Problemverhalten, eine Lernsituation zu analysieren, mit dem Ziel Förderstrategien und Entwicklungsmöglichkeiten zu finden, sondern um die Gestaltung dessen, »was als Schicksal bleibt, wenn alle für uns lösbaren Probleme gelöst, das Heilbare geheilt, das Förderbare gefördert, kurz: das Veränderbare verändert worden ist« (Kobi 1990, 55). Es geht deshalb um die Fragen,
– inwieweit ein Mensch mit einer bestehenden, nicht veränderbaren Behinderung am gesellschaftlichen Leben in größtmöglichem Umfang teilhaben kann,
– inwieweit sich das abnorm Bleibende in die, aus Sicht der Nicht-Behinderten, normalen Lebensverhältnisse integrieren lässt,
– inwieweit Nicht-Behinderte und Behinderte jenseits aller Veränderung ein gemeinsames Schicksal gestalten können.
Auch Trost (2008) differenziert zwischen unterschiedlichen Aufgabenbereichen für die sonderpädagogische Diagnostik und beschreibt damit ebenfalls entsprechende diagnostische Zielsetzungen (
Kap. II.1.3).
Obwohl Bundschuh (2000; 2004; 2010) immer auf die Überwindung der traditionellen Selektions-, Merkmals- und Eignungsdiagnostik durch die alternative Förderdiagnostik hinweist, beschreibt er gleichzeitig aber auch unterschiedliche Aufgabenbereiche der sonder- und heilpädagogischen Diagnostik. Aufgezählt werden neben dem Erfassen des Förderbedarfs weitere Aufgaben im Rahmen institutioneller und organisatorischer Handlungsfelder:
• Diagnosen des Erscheinungsbildes von Beeinträchtigungen (Störung, Behinderung, Defizite),
• Entscheidungen darüber, ob eine Aufnahme in die Förderschule angezeigt ist oder eine ambulante Förderung als ausreichend erscheint,
• Entscheidung über den optimalen Förderort beim Vorliegen von speziellem Förderbedarf im Sinne der Einweisung in unterschiedliche Schulen oder Einrichtungen,
• Prognosen über zukünftige Entwicklungen, womit auch die Frage nach der Eignung für ein bestimmtes Berufsfeld verbunden sein kann.
Auch die von Bundschuh (2000; 2004) differenzierten Formen der Begutachtung (Beratungsgutachten, Förderungsgutachten, Entscheidungsgutachten) lassen auf eine Unterscheidung spezifischer diagnostischer Strategien schließen, die zum einen auf die Beschreibung des Förderbedarfs und zum anderen auf die Notwendigkeit der Zuweisung zu einem Förderort zielen. Grissemann (1998) überschreibt seine Gedanken zu einer förderimmanenten Prozessdiagnostik in der Sonderpädagogik mit »Diagnostik nach der Diagnose« und meint damit eine zyklische förderungsbegleitende Diagnostik nach sogenannten Erstdiagnosen, die z. B. zu einer Einweisung in eine bestimmte Einrichtung geführt haben. Nachdem eine Platzierung mittels entsprechender Diagnose vorgenommen wurde, setzt die Förderdiagnostik unter Einbeziehung der neuen Lernbedingungen ein. Unter Berücksichtigung der Orientierung und Perspektive, unter der diagnostiziert wird, ergeben sich für Schuck (2000) ebenfalls zwei grundlegend unterschiedliche Aufgabenstellungen innerhalb der sonderpädagogischen Diagnostik. Eine institutionelle Orientierung führt zur prospektiven Diagnostik, die Schüler für Schulen auswählt und unter personaler Orientierung stellt sich die Aufgabe einer evaluativen Diagnostik, die schulformunabhängig optimale Förderung konzeptionalisiert.
Von der Erarbeitung europaweit gültiger Leitlinien für eine Diagnostik in inklusiven Schulen durch die »Europäische Agentur zur Entwicklung der Sonderpädagogik« berichtet v. Knebel (2010). Neben der förderdiagnostischen Zielsetzung, die Input für die Lernprozesse zu liefern und diese zu fördern hat und individuelle Lernfortschritte fokussiert, lässt sich unter der Überschrift »von der punktuellen Statusdiagnostik zur kontinuierlichen Prozessdiagnostik« überraschenderweise auch die klassifizierende und damit selektierende Strategie entdecken, wenn es da heißt: »Es wird ausdrücklich anerkannt, dass sonderpädagogische Diagnostik von sonderpädagogischen Fachkräften durchgeführt wird und Ressourcenzuweisung begründet« (v. Knebel 2010, 243). Diese Ressourcenzuweisung kann nur so gelingen wie das bisher auch schon in integrativen Settings immer der Fall war, nämlich über die Zuschreibung entsprechender Kategorien wie Förderbedarf, Behinderung, Störung oder mittels neuer inklusiv weich gewaschener Wortakrobatik.
3.2.2 Sonderpädagogische Diagnostik ist Förderdiagnostik
Autoren, die das Vorhandensein unterschiedlicher Fragestellungen zugunsten der Förderdiagnostik leugnen, betrachten die Einweisungsdiagnostik als die herkömmliche Diagnostik, der die Förderdiagnostik als ein alternatives neues Konzept gegenübergestellt wird. Sie sehen im Trend von der Selektions- zur Förderdiagnostik eine Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Diagnostik, wodurch der Eindruck entsteht, als gebe es eine »gute« und eine »schlechte« sonderpädagogische Diagnostik, eine sonderpädagogische Diagnostik, die grundsätzlich minderwertig und eine andere, die dieser in jedem Fall überlegen ist (Bundschuh 1991; 2004; Heimlich 1998; Wendeler 2000).
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