1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 Im Unterschied zur psychologischen Diagnostik erstreckt sich die pädagogische Diagnostik gemäß Definition auf Lehr-, Lern- und Bildungsprozesse und wird damit auf ein bestimmtes Handlungsfeld bezogen. Kretschmann (2004) sieht hierin eine gewisse Engführung, die alle emotionalen und sozialen Probleme im Kontext schulischen Lernens ausspart. Alles offen hält dagegen die Definition von Kleber (1992), wonach sich die pädagogische Diagnostik als Diagnostik in pädagogischen Handlungsfeldern versteht. Petermann und Daseking (2015) betrachten die pädagogisch-psychologische Diagnostik lediglich als ein spezifisches Handlungsfeld der psychologischen Diagnostik.
Von Bundschuh (2004) wird eine stärkere Werteorientierung als typisch für die pädagogische Diagnostik herausgestellt und auch Mutzeck und Melzer (2007) betrachten Werte, Ziele und Konzeptionen (Menschenbild, Handlungs- und Störungskonzepte, Konzeptionen von Schule, Unterricht, Familie, Freizeit, Gesellschaft) als der (sonder-)pädagogischen Diagnostik vor- und übergeordnet, die das diagnostische Handeln wesentlich mitbestimmen und deshalb bei jeder diagnostischen Tätigkeit mitzudenken sind.
Was die Diagnoseinstrumente und Diagnoseverfahren angeht, so sind diese nach Kretschmann (2004) vorwiegend psychologischer Natur und Herkunft und solche, die im Zusammenhang mit pädagogischer Prävention und Förderung einzusetzen wären, müssten im Grunde erst noch entwickelt werden. Benötigt werden in diesem Zusammenhang
• domainbezogene und curriculumvalide Verfahren, die Lernfortschritte nicht nur punktuell, sondern auch kontinuierlich messen,
• entwicklungsbezogene Verfahren, die abbilden, auf welchen Entwicklungsstufen sich ein Kind bezüglich unterschiedlicher Entwicklungsbereiche befindet,
• prozessorientierte Verfahren, die feststellen, wie weit Kinder oder Jugendliche bestimmte Erwerbsprozesse, wie z. B. Lesen, Rechnen und Schreiben bewältigt haben,
• Verfahren, die lernbereichsspezifische Motivation erfassen,
• umfeldbezogene Verfahren, mit deren Hilfe schädigende und schützende Bedingungen des Umfeldes eines Kindes entdeckt werden können sowie
• Verfahren, die neben Störungen auch Stärken und besondere Begabungen eines Lernenden erkennen (Kretschmann 2004; 2006a).
3.1.2 Sonderpädagogische Diagnostik
Gemäß der Definition von Sonderpädagogik als einer Pädagogik unter erschwerten Bedingungen formuliert Schuck (2000), sonderpädagogische Diagnostik sei nichts anderes als eine pädagogische Diagnostik zur professionellen Begleitung und Gestaltung von Prozessen der Bildung, Erziehung und Förderung unter eben erschwerten Bedingungen. Unter Rückgriff auf die Anthropologie des Lernens von Loch (1982), der Lernen als widerständig beschreibt, als ein ständiges Bemühen, Lernhemmungen zu überwinden, die entstehen, weil die Lernfähigkeiten oder Kompetenzen eines Kindes nicht den Lernaufgaben, die eine Lebenssituation stellt, entsprechen, führt Breitenbach (2003) aus, dass sonderpädagogische Diagnostik immer dann gefragt ist, wenn diese zum Lernen gehörenden Lernhemmungen so gravierend sind, dass sie mit den im Umfeld vorhandenen erzieherischen Möglichkeiten nicht mehr zu bewältigen sind. Auf die sonderpädagogische Diagnostik aufbauend, erfolgt in der Regel eine entsprechende sonderpädagogische Förderung, die sich nach Kretschmann (2006a) ebenfalls durch eine Bereitstellung und Durchführung besonderer Hilfsangebote, die über das pädagogische Standardangebot deutlich hinausgehen, auszeichnet.
Die sonderpädagogische Diagnostik ist für Nußbeck (2001) keine besondere Diagnostik, die über eigene von der psychologischen Diagnostik unterscheidbare Theorien, Instrumentarien oder Kriterien verfügt. Ihre Spezifizierung bezieht sich einerseits auf ihre Klientel, nämlich auf Personen, denen eine besondere Förderung zukommen soll, und andererseits auf den Personenkreis, der diagnostiziert, folglich die Sonderpädagogen.
Bundschuh (2010) betrachtet die sonderpädagogische Diagnostik zwar als ein Teilgebiet der Sonder- und Heilpädagogik, definiert diese jedoch dann fast wortgleich zur Ingenkamp’schen Definition der pädagogischen Diagnostik.
Stellt die Abgrenzung zwischen der pädagogischen und psychologischen Diagnostik schon ein schwieriges Unterfangen dar, so erscheint die begrifflich-inhaltliche Trennung der sonderpädagogischen von der pädagogischen Diagnostik schier unmöglich und letztendlich bleibt immer nur der Bezug auf die spezifischen sonderpädagogischen Situationen, Problem- und Fragestellungen.
Petermann und Petermann (2006) erkennen bei ihrem Blick auf die sonderpädagogische Diagnostik aus psychologischer Perspektive als Besonderheit ein multimodales und multimethodales Vorgehen, das ähnlich wie die psychologische Diagnostik ein Problemlöse- und Entscheidungsprozess ist, der einerseits der Abklärung eines Status quo und andererseits aber auch der Verlaufskontrolle dient. Dabei werden nicht nur psychische Störungen, sondern auch subklinische Phänomene und Probleme, kognitive Störungen und verschiedene umschriebene Entwicklungsstörungen, Risiko- und Schutzfaktoren aufseiten des Kindes, seiner Familie und seines Lebensumfeldes sowie der sonderpädagogische Förderbedarf im Hinblick auf Unterricht, Erziehung, Therapie und spezifisches Training mit optimalem Förderort erfasst. Diese Definition führt vor Augen, dass auch in der sonderpädagogischen Diagnostik die Status- und Prozessorientierung als zentrale diagnostische Strategien zu betrachten sind und um welch breites und umfassendes Handlungsfeld es sich beim sonderpädagogischen handelt, wie vielfältig sich die Anwendungsbereiche, die Methoden und Verfahren und damit auch die Grundlagen in den Referenzwissenschaften darstellen.
Um dieses große Aufgabengebiet zu bewältigen, bedarf die heilpädagogische Diagnostik nach Bundschuh (2010) einer engen Verbindung insbesondere zur Entwicklungspsychologie, der pädagogischen Psychologie, der klinischen, der medizinischen und der Sozialpsychologie. Ähnliche inhaltliche Zusammenhänge und Bedingungen umreißt Kretschmann (2004) in einem Modul »Pädagogische Diagnostik« in der Ausbildung von Lehrkräften. Neben den Grundlagen der psychologischen und pädagogischen Diagnostik im engeren Sinne sollten sonderpädagogische Diagnostiker neben didaktisch-methodischen Kompetenzen auch über ein Metawissen zu Entwicklungsverläufen und Störungsbildern sowie zu Präventions- und Interventionskonzepten verfügen.
Entsprechend der psychologischen Diagnostik lässt sich auch die sonderpädagogische in einem diagnostischen Dreieck, und somit in einem Spannungsfeld von Anwendungen, Methoden und Grundlagen beschreiben und charakterisieren (
Abb. I.4).
Die Grundlagen der sonderpädagogischen Diagnostik entstammen der Allgemeinen Heil- und Sonderpädagogik und den einzelnen sonderpädagogischen Fachrichtungen (Geistigbehindertenpädagogik, Lernbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik, Verhaltensgestörtenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Blinden- und Sehbehindertenpädagogik, Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik) ebenso wie den sogenannten Hilfs- oder Referenzwissenschaften (Allgemeine Didaktik, psychologische Diagnostik, pädagogische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Soziologie, Psychiatrie/Neurologie, Augenheilkunde, Orthopädie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde). Anwendung findet sie in den Handlungsfeldern Frühförderung, Vorschule, Schule, Berufsausbildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit und als Methoden sind neben den herkömmlichen psychologischen Methoden wie Anamnese, Verhaltensbeobachtung und psychologische Tests sonderpädagogisch spezifische wie Screeningverfahren, Fehleranalyse, curriculumbasiertes Messen, Kompetenzinventare oder Aufgabensammlungen, Rehistorisierung, Konsulentenarbeit oder das schulische Standortgespräch zu nennen.
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