Als Aufgabenbereiche einer sonderpädagogischen Diagnostik nennt Trost (2008):
• Die Beantwortung institutioneller Fragestellungen, womit Fragen nach der Schullaufbahn, nach Ein- und Umschulung, nach Zuweisung auch im vor- und nachschulischen Bereich gemeint sind.
• Die Beurteilung der Entwicklung und des Verhaltens von Menschen mit Behinderung, um gegebene Problemlagen zu verstehen und entsprechende förderliche Perspektiven zu entwickeln.
• Erziehungs- und unterrichtsbegleitende Lernprozessdiagnostik, um die Auswirkungen des eigenen pädagogischen Handelns einschätzen zu können und
• die Förderplanung, wobei nicht das Erstellen von Plänen, sondern der Prozess des Planens im Vordergrund stehen sollte.
Kany und Schöler (2009) sehen ebenfalls vielfältige Fragestellungen und damit verbundene diagnostische Aufgaben für Grund- und Sonderschullehrkräfte: Ermittlung der Schulfähigkeit, Feststellung des (sonder-)pädagogischen Förderbedarfs, Empfehlungen am Ende der Grundschule für die Schulform in Sekundarstufe I und letztendlich die Ermittlung der Leistungen und Leistungsfortschritte für die Planung der nächsten methodisch-didaktischen Schritte im Unterricht und der weiteren individuellen Förderung von Kindern mit Auffälligkeiten im Lernen und Verhalten.
Diese Aufzählungen machen hinlänglich deutlich, dass die Diagnosekompetenz als zentrale oder auch Kernkompetenz für erfolgreiches Unterrichten und pädagogisches Handeln zu betrachten ist. Nimmt man die derzeitige Debatte zur sonderpädagogischen Professionalität zur Kenntnis, so gehören laut Moser (2005) die diagnostischen Kompetenzen zu den zentralen Professionsmerkmalen. Im Zentrum steht in nahezu allen Kompetenzprofilen, so Moser (2005) weiter, die Diagnostik als Kern sonderpädagogischer Intervention, und dies gelte mittlerweile sowohl für schulische als auch für außerschulische Arbeitsfelder. Aufgrund der zunehmenden Heterogenität in der Grundschule durch Formen der flexiblen Eingangsstufe oder der Möglichkeiten der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung stellt Seitz (2007) für die Grundschullehrkräfte eine Erweiterung diagnostischer Aufgaben und Kompetenzen fest, die bisher nur im Bereich von Sonderschulen bedeutsam zu sein scheinen. In diesem Sinne ist auch Kretschmann (2004) zu verstehen, wenn er für die Umsetzung von Integrationsmodellen fordert, dass Sonder- und Regelschullehrkräfte, sollen sie bei der Betreuung von Kindern mit erhöhtem oder sonderpädagogischem Förderbedarf nachhaltig kooperieren, über eine Schnittmenge von Diagnose- und Förderkompetenzen verfügen müssen.
Resümiert man die vielfältigen diagnostischen Anlässe und Aufgaben, überrascht es nicht, wenn Autoren wie z. B. Bundschuh (2010) fordern, Diagnostiker sollten über fachliche, diagnostische, didaktische und therapeutische Kompetenzen verfügen. Gleichzeitig drängt sich förmlich die Frage auf, wer diese vielen unterschiedliche Kompetenzen in sich vereinigen kann (
Kap. I.3 3 Sonderpädagogische Diagnostik Kretschmann (2003; 2004) zeichnet eine fachlich-historisch begründete Linie von der medizinischen über die psychologische zur pädagogischen Diagnostik, wobei er davon ausgeht, dass gerade zwischen der pädagogischen und der psychologischen Diagnostik keine scharfe Trennungslinie gezogen werden kann, sondern dass sich hier die Übergänge eher fließend gestalten, was auch in der Verwendung des Begriffs »psychologisch-pädagogische Diagnostik« durch manche Autoren zum Ausdruck kommt (Langfeldt & Tent 1999; Ricken 2005; Schuck 2000). Diese Linie ließe sich weiterführen hin zur sonderpädagogischen Diagnostik als eine bestimmte oder besondere Form pädagogischer Diagnostik und ein kurzes Verweilen auf dem Weg hin zu dieser sonderpädagogischen Diagnostik bei den Bestimmungsstücken und Problemlagen der pädagogischen Diagnostik erscheint angemessen und hilfreich.
und
Kap. I.4.2.4).
2 Psychologische Diagnostik
Die sonderpädagogische Diagnostik ist nach Bundschuh (2010) hinsichtlich ihrer Aufgaben, Handlungsfelder und Ziele eigenständig, hat jedoch viele Impulse gerade im Bereich der Methoden aus der psychologischen Diagnostik erhalten. Hesse und Latzko (2009) sind der Meinung, dass sich die pädagogische Diagnostik von der psychologischen nicht notwendig durch eigene Verfahren, Methoden und Theorien unterscheide, sondern nur durch den Bezug auf die pädagogische Fragestellung und Entscheidung und stellen auf diese Weise eine große Nähe zur psychologischen Diagnostik her. Insofern scheint es lohnenswert, sich zunächst der Grundlagen psychologischer Diagnostik zu versichern, um das Verhältnis der psychologischen zur pädagogischen und sonderpädagogischen Diagnostik zu klären und letztendlich auch auf diesem Wege das Besondere und Eigenständige an der sonderpädagogischen Diagnostik herauszuarbeiten.
Die meisten Definitionen weisen darauf hin, dass die psychologische Diagnostik
• bei einer Fragestellung ihren Ausgang nimmt,
• theoriegeleitet gezielt Informationen sammelt und verarbeitet, die im Zusammenhang mit der Fragestellung für das Verständnis menschlichen Verhaltens und Erlebens bedeutsam sind,
• um dann auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen oder Prognosen über zukünftige mögliche Entwicklungen aufzustellen und
• um diese angestrebten und bewirkten Veränderungen letztendlich auch kontrollieren und evaluieren zu können (Jäger & Petermann 1999; Amelang & Schmidt-Atzert 2006; Petermann & Eid 2006; Hesse & Latzko 2009; Kubinger 2009; Pospeschill & Spinath 2009; Rentzsch & Schütz 2009; Amelang & Schmidt-Atzert 2012).
Für Schuck (2004a) stellt die pädagogisch-sonderpädagogische Diagnostik – und man achte auf die Ähnlichkeiten – im Kern einen Versuch dar, über die Reduktion der menschlichen Komplexität in der diagnostischen Situation zu Erklärungen, zu Prognosen und zu handlungsrelevanten Entscheidungen zu gelangen.
Psychologische Diagnostik ist nach der Definition von Amelang und Schmidt-Atzert (2006) eine Methodenlehre im Dienste der Angewandten Psychologie. Ihre Aufgabe besteht darin, »interindividuelle Unterschiede in Verhalten und Erleben sowie intraindividuelle Merkmale und Veränderungen einschließlich ihrer jeweils relevanten Bedingungen so zu erfassen, dass hinlänglich präzise Vorhersagen künftigen Verhaltens und Erlebens sowie deren evtl. Veränderungen in definierten Situationen möglich werden« (Amelang & Schmidt-Atzert 2006, 3).
Die Aufgaben und Fragestellungen werden, so Amelang und Schmidt-Atzert (2012), von ihren Anwendungsgebieten (Arbeits- und Organisations-, Forensische-,Pädagogische- und Klinische Psychologie) her bestimmt und so geht es im Rahmen der pädagogischen Psychologie z. B. um die Feststellung der Schulfähigkeit, die Eignung für weiterführende Schulen, das Feststellen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs, die Eignung für bestimmte Berufsausbildungen oder um Erziehungsprobleme in Schule und Familie. Die psychologische Diagnostik konstruiert und verwendet weiterhin zur Bewältigung dieser vielfältigen Aufgaben spezifische Verfahren und Methoden wie Exploration, Interview, schriftliche und mündliche Befragung, psychometrische Tests und Verhaltensbeobachtung. Die theoretische Begründung und Fundierung erfolgt durch einen Rekurs auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse der durch ihre Teildisziplinen (Differentielle und Klinische, Psychologie, Sozial-, Motivations-, Kognitions-, Sprach- und Entwicklungspsychologie) repräsentierten Gesamtpsychologie. Methoden, Anwendungen und Grundlagen konstruieren somit drei Seiten einer Art Spannungsfeld, in dem psychologische Diagnostik entsteht und fruchtbar wird (
Abb. I.1).
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