Tristan hatte nie etwas Eigenes besessen, er hatte nie die geringste Privatsphäre gehabt. Seine Heimlichkeiten zu respektieren, war also das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.
Aber ehrlich, was hatte es sie in den Fingern gejuckt! Der Block lag auf ihrem obersten Regelbrett (das sie Tristan überlassen hatte, weil sie sowieso nicht herankam, ohne auf einen Stuhl zu steigen) und stachelte Tag und Nacht ihre Neugier an. Es war, als flüsterte er ihr zu: Na, was ist? Jetzt wäre der Moment! Eine fast unwiderstehliche Versuchung.
Bildende Kunst war eine ganz neue Entdeckung für Tristan. Sie selbst hatte Kunst in der Schule abgewählt, sobald es möglich war – sie konnte weder zeichnen noch malen. Aber Tristans Augen hatten aufgeleuchtet, als sie ihm ein Malset zu Weihnachten geschenkt hatte. Er war sofort in seinem Element gewesen … glaubte sie jedenfalls. Sie hatte keine Ahnung, ob er gut war oder nicht, aber das war auch egal – Hauptsache, es machte ihm Spaß.
Trotzdem war sie natürlich neugierig.
Tristan tippte einmal, zweimal mit den Fingern gegen die Spiralbindung, bevor er ihr den Block hinhielt. »Hier«, sagte er. »Deine Belohnung.«
»Im Ernst?« Mit gespielter Überraschung zog sie die Augenbrauen hoch. »Heißt das, ich darf es anschauen?«
»Ja.«
Damit er nicht doch noch einen Rückzieher machen konnte, verzichtete sie auf trockene Kleider und setzte sich neben ihn aufs Bett, wie sie war. Behutsam nahm sie den Block und schlug das Deckblatt zurück, um die erste Zeichnung zu bewundern.
Ein Porträt. Ihr eigenes Gesicht starrte ihr entgegen. Die Augen, die das ganze Bild beherrschten, schauten unter langen, geschwungenen Wimpern hervor. Die Lippen waren zu einem leichten Lächeln gekräuselt, das sie spöttisch, ja geheimnisvoll aussehen ließ. Und hübsch. Auf dieser Zeichnung war sie richtig hübsch.
Als sie hochsah, ruhten Tristans Augen auf ihr. Es fiel ihr schwer, seinem prüfenden Blick standzuhalten, aber sie versuchte es, gab ihr Bestes, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Gegen die Röte in ihren Wangen konnte sie allerdings nichts ausrichten.
Mit leicht zitternden Fingern schlug sie das Blatt zurück, um die nächste Zeichnung anzusehen, die mit Kohlestift angefertigt war. Ein Profilbild von ihr, wie sie dastand und auf etwas außerhalb der Zeichnung starrte. Die Haare fielen ihr in langen, verschlungenen Wellen über den Rücken.
Dann das nächste Blatt. Nächstes Bild. Sie selbst im Rollstuhl, mit finsterem Gesicht, wutentbrannt an ihrem Gips herumzerrend. Die Umrisse des Rollstuhls waren leicht verschoben, die Perspektive nicht ganz stimmig, aber der bockige Ausdruck in ihrem Gesicht war unverkennbar.
Die nächste Zeichnung zeigte nicht sie, sondern ihre Eltern, die Seite an Seite auf dem abgewetzten alten Sofa saßen. Joan starrte geradeaus – wahrscheinlich auf den Fernseher – und James sah Joan an. Der Ausdruck in seinem Gesicht war … na ja, nicht anders, als sie ihn schon viele Male gesehen hatte – sehnsüchtig, voller Liebe, zuversichtlich. Tristan hatte ihn perfekt eingefangen.
Die nächste Seite zeigte kein richtiges Bild, sondern bestand aus sechs flüchtig hingeworfenen Skizzen von …
»Ist das mein Ohr?«, fragte sie und legte verwirrt ihren Kopf zur Seite. Dass es ihr Ohr war, hätte sie nicht unbedingt erkannt – ein Ohr ist ein Ohr, oder? –, wenn nicht der kleine Gänseblümchenohrstecker darin gewesen wäre.
»Ähm, ja.« Tristan griff herüber, um ihr den Block wieder abzunehmen, aber sie zog ihn schnell aus seiner Reichweite.
»Nein, warte«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig.«
Sie schlug das nächste Blatt auf und sah sich selbst, lachend. Ihre Augen waren zusammengekniffen, ihr Kinn auf eine nicht besonders attraktive Weise nach unten gedrückt, aber sie lächelte trotzdem. Das Bild strahlte eine ansteckende Lebensfreude aus.
»Die sind wirklich gut, Tristan«, sagte sie leise, als ihr bewusst wurde, dass sie die ganze Zeit über stumm geblieben war, abgesehen von dem Kommentar über ihre Ohren. An Tristans Stelle hätte sie schon minutenlang herumgezappelt, als wären ihr Ameisen in die Hose gekrochen, und ungeduldig auf sein Urteil gewartet. »Ich meine, die sind wirklich, wirklich gut. So lebensnah.« Das nächste Blatt war leer, markierte den Beginn der künftigen Produktion und sie blätterte zu den bereits gesehenen Skizzen zurück. »Wie hast du nur die Details so genau hinbekommen? Du kannst das alles doch nur ein paar Augenblicke gesehen haben.«
»Ich weiß nicht.« Tristan zuckte mit den Schultern. Er griff wieder nach dem Block und diesmal ließ sie es zu. »Hab einfach was gesehen, das mir gefallen hat, und später hab ich’s nach der Erinnerung gezeichnet.«
»Dann bist du ein guter Beobachter«, bemerkte sie.
»Klar, darin hab ich Übung«, erinnerte er sie. »Nachts, im Niemandsland, gab es nicht viel mehr zu tun, als dazusitzen und zu schauen.«
»Stimmt«, sagte sie leise. Sie dachte nicht gern an die Zeit, in der Tristan eine Seele nach der anderen durch das Niemandsland führen musste, gefangen in diesem nie endenden Kreislauf. Oder nein, nicht »nie endend«. Er war jetzt hier, bei ihr. Er war diesem Leben entronnen.
Sie schaute zu, wie er zum ersten Bild zurückblätterte. Die Zeichnung von ihrem Gesicht, das zu ihnen beiden aufschaute.
»Warum jetzt ?«, fragte sie leise. »Warum hast du mir das alles heute gezeigt?«
Tristan zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nur …« Er schlug ein anderes Blatt auf, das Bild von Dylan im Rollstuhl. »Im Niemandsland gab es nur uns beide. Aber hier sind so viele Leute, so viele Ablenkungen.« Er klappte den Block zu und legte ihn beiseite, um seine volle Aufmerksamkeit auf sie zu richten. »Du sollst wissen, dass ich dich immer noch sehe. Dieses Leben, diese Welt, das alles ist fantastisch, aber nur, weil ich es mit dir teilen kann.«
Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Was sollte sie auf eine solche Erklärung auch antworten? Große Worte waren nie ihr Ding gewesen.
»Ich liebe dich«, stieß sie schließlich hervor.
Tristan grinste und strich ihr eine ihrer nassen Haarsträhnen hinters Ohr. »Ich weiß«, sagte er. »Ich liebe dich auch.«
Dann küsste er sie, sein Mund heiß auf ihrem, und zog sie in seine Arme, bis sie ganz von feuchtem Stoff umhüllt war. Sie schloss die Augen und überließ sich seiner Umarmung. Das zerfetzte Pferd war nur noch eine tragische Geschichte, die sie einfach aus ihren Gedanken gleiten ließ.
Sie waren zusammen, in Sicherheit. Das konnte ihnen nichts und niemand nehmen.
Er starrte zur Decke hinauf. Dylan schlief neben ihm wie ein Baby, er spürte jeden ihrer Atemzüge als warmen Lufthauch an seiner Schulter. Vorsichtig wälzte er sich herum, suchte nach einer bequemeren Haltung, ohne sie aufzuwecken. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich darauf, seinen Atem tiefer werden zu lassen, ihn ihrem Rhythmus anzupassen, in der Hoffnung, dass ihn das in den Schlaf einlullen würde.
Aber nein. Keine Chance.
Unablässig schwirrten ihm dieselben Bilder und Gedanken durch den Kopf, er konnte den Anblick des zerfleischten Pferdekadavers einfach nicht abschütteln. Er stellte sich das Tier vor, wie es einmal gewesen sein musste: wie es über die Wiese wanderte und graste, wie sein kastanienbraunes Fell in der Sonne glänzte. Es wäre leichte Beute für einen Dämon gewesen.
Aber Dylan hatte recht. Das war unmöglich. In dieser Gegend gab es keinen Riss im Schleier. Und außerdem, welcher Dämon würde die dicht bevölkerten Städte dort einfach links liegen lassen, um sich über ein Tier herzumachen? Das ergab keinen Sinn.
Trotzdem ließ dieses nagende Gefühl in seiner Brust nicht von ihm ab.
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