Claire Legrand
Zorngeboren
Die Empirium-Trilogie (Band 1)
Aus dem amerikanischen Englisch von Alexandra Rak und Ariane Böckler
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Furyborn – The Empirium Trilogy (Book 1) bei Sourcebooks Fire.
© by Arctis Verlag
Ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich 2019
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2018 Claire Legrand
Übersetzung: Alexandra Rak und Ariane Böckler
Lektorat: Ulrike Schuldes
Covergestaltung: David Curtis
Überarbeitung: Suse Kopp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
ISBN 978-3-03880-120-7
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Für Brittany,
die Celdaria als Erste kannte
EIN ENDE UND EIN NEUER ANFANG
»Einige behaupten, in ihren letzten Momenten sei die Königin verängstigt gewesen. Aber ich stelle mir lieber vor, dass sie wütend war.
Die Worte des Propheten
Kurz nach Mitternacht hörte die Königin auf zu schreien.
Simon hielt sich in ihrem Wandschrank verborgen und hatte die Finger in die Ohren gesteckt, damit er die Schreie nicht mit anhören musste. Seit Stunden schon hatte er mit angezogenen Knien und gebeugtem Kopf zusammengekauert dort gesessen. Seit Stunden hatten die Gemächer der Königin im Gleichklang mit ihren Schreien gebebt.
Jetzt herrschte Stille. Simon hielt die Luft an und zählte wie bei einem Gewitter, wenn man nach dem Blitz auf das Grollen des Donners wartete, die Sekunden: Zog dieses Unwetter vorbei oder kam es näher?
Eins. Zwei. Drei.
Als er bei zwanzig war, senkte er vorsichtig seine Hände.
Die Stille wurde von dem Weinen eines Babys durchbrochen. Simon lächelte und richtete sich auf, eine Welle der Erleichterung erfasste ihn.
Die Königin hatte ein Kind geboren – endlich . Jetzt konnten er und sein Vater diese Stadt verlassen und mussten nie wieder zurückschauen.
Simon zwängte sich an den Roben der Königin vorbei und stolperte in ihr Schlafgemach.
»Vater?«, fragte er atemlos.
Garver Randell, Simons Vater, drehte sich mit müden Augen, aber einem breiten Lächeln zu seinem Sohn. Hinter ihm lag Königin Rielle, ihre unbändigen schwarzen Haare klebten an ihrer blassen Haut, die Bettlaken und ihr weißes Nachthemd waren rot gefärbt. In ihren Armen hielt sie ein sich windendes Bündel.
Obwohl Simon beim Anblick der Königin vor Wut kochte, schlich er staunend näher ans Bett. Die neugeborene Prinzessin seines Königreiches war ein kleines Ding – mit zerknautschtem rotem Gesicht, die Haut etwas dunkler als die ihrer Mutter, großen braunen Augen und einem Büschel nasser schwarzer Haare.
Simon stockte der Atem.
Die Kleine sah ihrem verstorbenen Vater sehr ähnlich.
Rielle starrte das Kind an, dann blickte sie verblüfft zu Simons Vater.
»Ich dachte, ich würde sie umbringen«, sagte die Königin. Sie lachte und wischte sich mit zittrigen Fingern übers Gesicht. »Ich träumte davon. Und dennoch ist sie hier.« Unsicher rückte sie das Baby in ihren Armen zurecht. Babys zu halten, schien sie nicht gut zu beherrschen.
Es war eigenartig, die Königin so zu sehen. Vor ihren aufgetürmten Kissen wirkte sie schmächtig und kaum älter als ein junges Mädchen, obwohl sie bereits zwanzig Jahre alt war. Diese Königin, die sich mit den Engeln verbündet und ihnen dabei geholfen hatte, Tausende von Menschen umzubringen.
Diese Königin, die ihren Mann ermordet hatte.
»Audric hätte sie geliebt«, flüsterte Rielle und kämpfte gegen die Tränen.
Simon ballte seine kleinen Hände zu Fäusten. Wie konnte sie es wagen, über König Audric zu reden, wo sie ihn doch auf dem Gewissen hatte.
Über die Nacht, als die Hauptstadt fiel, wusste er nur ein paar Einzelheiten. Auf der breiten Terrasse, die vom dritten Stockwerk des Schlosses aus zugänglich war, hatte König Audric gegen Königin Rielle gekämpft. Im Schwert des Königs flammte das Licht der Sonne, seine mit Diamanten und Spiegeln besetzte Rüstung funkelte heller als die Sterne.
Aber nicht einmal König Audric der Lichtbringer, der mächtigste Sonnenbändiger seit Jahrhunderten, war stark genug gewesen, um Königin Rielle zu bezwingen.
Die Königin hatte aus dem Nichts ein Schwert geschaffen, eine grell blendende Waffe, geschmiedet vom Empirium selbst. Rielle und Audric kämpften Schwertschlag um Schwertschlag, aber der Kampf dauerte nicht lange.
Und als Rielle mit ihrer glühenden Hand in Audrics Brustkorb eintauchte, um sein Herz herauszureißen, und er zu ihren Füßen zu Asche zerfiel, lag in ihren Augen pure Mordlust.
Simon war kein gewalttätiges Kind, aber er befürchtete, wenn er die Königin noch eine Sekunde länger anschauen musste, würde er nach ihr schlagen.
Stattdessen murmelte er zu Audrics Ehren das Sonnenkönigin-Gebet – Möge das Licht der Königin ihn nach Hause führen – und drehte sich lieber zu seinem Vater.
In diesem Augenblick erstarrte Garver Randell. »Er weiß es«, flüsterte er und ging keuchend in die Knie.
Simon eilte zu ihm. »Vater? Was hast du? Was ist los?«
Garver umklammerte seinen Kopf, sein Körper zuckte. »Er weiß es, Gott steh uns bei, er weiß es«, stöhnte er, und als er aufsah, waren seine Augen grau verschleiert.
Simon wurde das Herz schwer. Er kannte solche Augen und wusste, was sie bedeuteten.
In den Geist seines Vaters war ein Engel eingedrungen.
Und dem Grauen nach zu urteilen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, musste es Corien sein.
»Vater, hör mir zu! Ich bin bei dir!« Simon packte ihn am Arm. »Lass uns aufbrechen. Wir können jetzt fort von hier! Bitte, beeil dich!«
Hinter Simon sang die Königin leise: »So hält man sein kleines Kind. So tötet man seinen Ehemann.« Ihr Lachen war tränenerstickt.
»Er weiß, wer ich bin«, sagte Garver mit rauer Stimme.
Simon fürchtete sich noch mehr und konnte sich nicht mehr rühren.
Corien wusste – dass sein Vater ein Gezeichneter war, genau wie Simon auch. Weder Engel noch Mensch, aber mit beider Blut in den Adern.
Plötzlich kamen Simon die Male auf seinem Rücken, die unter seinem Hemd versteckt waren, wie Leuchtfeuer vor, die jedem in der eroberten Stadt verrieten, wo er sich versteckte. Seit Jahren schon lebten er und sein Vater unentdeckt in Celdarias Hauptstadt und verbargen ihren gezeichneten Rücken und ihre verbotene Magie. Sie waren ehrliche und fleißige Heiler gewesen, die von Bürgern und Tempelrichtern und sogar von Mitgliedern des Königshauses aufgesucht wurden.
Aber jetzt … jetzt wusste Corien Bescheid.
Simon schob seinen Vater zur Tür. »Komm, Vater, bitte!«
»Geh weg von mir!«, würgte Garver hervor. »Sonst wird er dich finden!« Er packte Simon am Kragen und stieß ihn von sich.
Simon schlug mit dem Kopf gegen das Himmelbett der Königin und sackte benommen zu Boden. Er sah mit an, wie sein Vater sich abwandte, kurz lachte und wieder seinen Kopf umklammerte. Sah, wie sein Vater wütend fremde Worte vor sich hin murmelte, mit einer Stimme, die halb ihm und halb Corien gehörte – und wie er schließlich humpelnd zum Terrassenfenster eilte.
Dann stürzte Garver Randell sich mit einem heiseren Schrei vom Turm der Königin.
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