»Das ist eine sehr schlechte Verkehrspolitik Ihres Landes.«
Er führte mich aus dem Bahnhof Friedrichstraße und fragte, ob ich zur Wohnung seiner Mutter laufen oder lieber mit der Straßenbahn fahren wolle. Ich erklärte mich einverstanden, zu laufen. Sein Englisch war steif, ein wenig verkrampft, und bildete einen Kontrast zu dem Selbstvertrauen und der Energie in seinem Körper.
»Das ist unsere Stadt an der Spree«, sagte er und deutete in Richtung des Flusses. Wir liefen am grauen Wasser der Spree entlang, vorbei am Theater des Berliner Ensembles, gegründet von Brecht, der während der Nazizeit im Exil gewesen war. Er hatte in mindestens vier Ländern gelebt, die ich für Walter aufzählte.
»Schweden, Finnland, Dänemark, schließlich Amerika.«
»O ja, Brecht«, sagte Walter. »Wussten Sie, dass Bruce Springsteen im Juli hier ein Konzert gegeben hat? Er hat drei Stunden lang gespielt.« Er korrigierte sich. »Nein. Vier Stunden.«
Ich wusste, dass Brecht von der Obrigkeit mit Misstrauen betrachtet worden war, weil er sich entschieden hatte, in Amerika zu leben, nicht in der Sowjetunion. Dennoch war er nach Ostdeutschland zurückgekehrt, um seine Stücke zu schreiben, in der Hoffnung, eine Rolle beim Aufbau eines neuen sozialistischen Staates zu spielen. Anscheinend interessierte ich mich mehr für Brecht als mein Dolmetscher, deshalb erzählte ich ihm nicht, dass ich den ganzen Text der Dreigroschenoper (»eine Oper für Bettler«) auswendig kannte und in der Badewanne oft »Surabaya Johnny« sang. Ich schaute hinunter auf zwei weiße Schwäne, die Seite an Seite auf der Spree schwammen.
»Schwäne leben gern zusammen«, sagte ich. »Sie gehen starke Bindungen ein.«
Walter bemühte sich, Interesse vorzutäuschen. »Besten Dank für die Information.« Seine Stimme war ernsthaft, doch seine Augen lachten.
Wie Walter mir erzählte, war er gerade aus Prag zurückgekehrt, wo er für Kameraden, die einen Ingenieurkurs belegten, vom Tschechischen ins Deutsche übersetzt hatte. Als ich ihm dafür dankte, dass er mich vom Bahnhof abgeholt hatte, obwohl er gerade erst von seiner eigenen Reise heimgekehrt war, lachte er. »Dieser Spaziergang mit Ihnen ist ein Glücksfall. Ich kann etwas Nützliches tun, Sie zum Beispiel zu einem Bier einladen.« Eine Fliege summte vor seinen Lippen herum. Er wedelte sie fort und stampfte dann mit dem Stiefel auf, um sie zu verscheuchen.
»Magie.« Er lachte und stampfte wieder mit dem Stiefel auf.
»Magie«, wiederholte ich. Ich wusste nicht, was vor sich ging oder warum er lachte.
»Was Sie auch tun«, sagte er, »wenn Sie Ihren Bericht über unsere Republik verfassen, schreiben Sie nicht, dass alles grau und bröckelig war, mit Ausnahme der farbenfrohen Unterbrechung durch an Gebäuden angebrachte rote Fahnen.«
»Auf keinen Fall.« Ich blickte mit meinen tiefblauen Augen in seine blassblauen Augen. »Ich werde erwähnen, dass es Fliegen gibt. Und dass die Straßenbahnen oft von Frauen gefahren werden.« Ich kannte ihn noch nicht gut genug, um ihm mitzuteilen, dass ich mich daran gewöhnt hatte, zensiert zu werden, weil Jennifer mir verboten hatte, sie mit meinen alten Worten zu beschreiben.
Wir setzten unsere heitere Unterhaltung fort. Walter ging flott in seinem dicken Wintermantel, während ich in meiner leichten Jacke mitzuhalten versuchte. Er erzählte mir, wie sehr ihm der Name eines bestimmten Gebäcks in Prag gefiel. Es hieß »Kleiner Sarg« und bestand zum größten Teil aus Sahne. Ich nahm an, er sprach von einem Eclair.
Er fragte mich, ob ich das Werk der tschechischen Künstlerin Eva Švankmajerová kennen würde. Ich kannte es nicht. Er bewunderte einen Satz, den sie geschrieben hatte; er würde ihn jetzt für mich zu übersetzen versuchen. Er schloss die Augen – »Also« – und runzelte lange die Stirn, während er die Worte über drei Sprachen hinweg, Tschechisch, Deutsch, Englisch, zu erfassen versuchte, dann öffnete er die Augen wieder, boxte mich gegen den Arm und warf sein Haar zurück. »Es lässt sich nicht übersetzen.« Was er in Prag wirklich gern tat, war, ein Gläschen Sliwowitz zu kippen, »einen sehr alten, aus Mähren«. Bald würde er mich dem Universitätsrektor vorstellen, der mir sehr wahrscheinlich einen guten Schnaps anbieten würde.
Nach einer Weile fragte er mich, warum ich hinken würde. Ich erzählte ihm auf Deutsch vom Fast-Unfall auf der Abbey Road, und er sagte auf Englisch: »Sprechen wir nun deutsch oder englisch miteinander?«
»Nun, vielleicht halbe-halbe«, sagte ich auf Deutsch.
»Wie kommt es, dass Sie fließend Deutsch sprechen?«, fragte er auf Englisch.
»Meine Mutter wurde in Heidelberg geboren.«
»Dann sind Sie zur Hälfte Deutscher?«
»Sie kam mit acht Jahren nach Großbritannien.«
»Hat sie zu Hause deutsch gesprochen?«
»Nie.«
Dieses Mal bedankte er sich nicht bei mir für die Information.
Als ich weiter hinkte, fragte er mich unverblümt, ob ich lahm sei.
»Ich bin nicht lahm. Ich habe nur eine geprellte Hüfte.«
Ich sagte das laut und mit Gefühl. Ich wollte auf Walter Müller nicht wie ein Jammerlappen wirken. Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich wollte ganz anders wirken, aber die Wahrheit war, dass ich Bauchschmerzen hatte. Es fühlte sich an, als würde etwas mit einem Messer aus meinen Eingeweiden herausgeschnitten.
Er bot an, meine Tasche zu tragen. Ich lehnte ab, doch er nahm sie trotzdem und schlang sie sich über die Schulter, während wir eine Straße mit Kopfsteinpflaster entlanggingen, die Marienstraße hieß. Nach einer Weile zeigte er auf das Krankenhaus, in dem seine Schwester als Krankenschwester arbeitete. »Die Ärzte sind sehr gut«, sagte er, »aber man bleibt besser nicht über Nacht dort. Sie könnte eine Röntgenuntersuchung für Sie organisieren, wenn Sie möchten.«
»Nein!« Ich schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er lachte.
»Sie sind stärker, als Sie aussehen.«
Das hatte er wohl nicht ernst gemeint, weil er mich wegstieß, als ich ihm meine Tasche abzunehmen versuchte.
In einiger Entfernung ratterte eine Straßenbahn vorbei.
»Setzen Sie sich, Saul.« Walter zeigte auf eine Steinstufe vor dem Eingang eines der Wohnblöcke.
Wie befohlen setzte ich mich auf die Stufe. Er setzte sich neben mich, meine Tasche zwischen den Knien. Alles war friedlich und ruhig. Ich bemerkte, dass Walter jetzt eine Brille aufgesetzt hatte und seine Zeitung las. Der Himmel hatte sich verdüstert, und sein linker Arm ruhte auf meinen Schultern. Ich war glücklich. Unerklärlich glücklich. Es fühlte sich an wie in dem Moment, als ich mit dem illegalen Pudel auf dem Schoß auf Mrs Stechlers Sofa gesessen hatte. Wir saßen lange dort.
Nach einer Weile klopfte er mir auf die Schulter.
»Erzählen Sie mir von Ihrem Unfall.«
Ich fing an zu reden. Ich hörte mich Gedanken äußern, von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie hegte. Ich erzählte Walter, was mich auf der Abbey Road wirklich beunruhigt hätte, sei der Umstand, dass meine Mutter bei einem Autounfall gestorben sei, als ich zwölf war. Irgendwie, irrationalerweise, kam mir der Gedanke, dass Wolfgang – so hieß der Fahrer, teilte ich ihm mit – dieselbe Person sein könnte, die auch sie getötet hatte.
»Das ist eine verständliche Befürchtung«, sagte Walter.
Ich erzählte ihm, dass meine Hände zu zittern begonnen hätten, als ich zum Ort des Unfalls zurückgekehrt sei, und dass ich mit der Frau, die mich um Feuer für ihre Zigarette gebeten hatte, auf der Mauer gesessen hätte. Das Zittern, so erzählte ich ihm, habe mit der Erinnerung an die ersten Sekunden zu tun, nachdem ich die Nachricht bekommen hatte, dass meine Mutter gestorben sei und nie wieder nach Hause kommen würde. Und mit einer weiteren Erinnerung an das Begreifen, dass das bedeutete, ich musste mit meinem Vater und meinem Bruder ohne meine Mutter leben, die ihren Körper wie eine menschliche Mauer benutzt hatte, um mich vor ihnen zu schützen.
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