Frau Kortner ließ Sabine los und wandte sich ab. „Du willst also nicht!“ sagte sie beleidigt. „Gib doch zu, du hast kein Vertrauen mehr zu mir.“
„Aber Mutti!“
„Ich mache mir Sorgen um dich, Sabine, ich zerbreche mir den Kopf, wie ich dir helfen kann! Und du, du hältst es nicht einmal für nötig . . .“ Auf Frau Kortners Wangen erschienen hektische rote Flecken. „Glaubst du, es ist einfach für eine Mutter, mitanzusehen, wie sich ihre einzige Tochter wegwirft? Dieser junge Mann hat es doch keine Sekunde lang ernst mit dir gemeint! Ich kenne solche Herren aus reichem Haus, ich hätte dir gleich voraussagen können . . .“
Sabine ertrug es nicht länger. „Sein Vater hat ihm verboten, mich wiederzusehen!“ schrie sie heraus.
Frau Kortner sah ihre Tochter entgeistert an.
„Was starrst du mich so an?“ fragte Sabine mit bebender Stimme. „Gib doch zu, daß du froh darüber bist. Wahrscheinlich hast du sogar dafür gebetet.“
Ein Lächeln zog sich über das Gesicht der Frau. „Sei mir dankbar dafür, daß ich es so gut mit dir meine.“
Sabine glaubte, ihre Mutter triumphiere noch über ihr Unglück. „Ja, verdammt gut, das kann man wohl sagen!“ schrie sie außer sich. „Du glaubst, daß ich eine alte Jungfer werde! Wenn du mich wirklich liebtest, würdest du jetzt mit mir leiden. Aber du denkst ja nur an dich! Du hast Angst davor, allein zu bleiben, gib es doch zu! Was aus mir wird, ist dir ganz egal!“
In der Ferne ertönte der erste dumpfe Donnerschlag, aber die beiden Frauen achteten nicht darauf.
„Ich wollte doch nur . . .“, sagte Frau Kortner hilflos, überrumpelt von der ungewohnten Heftigkeit ihrer Tochter, „ . . . ich wollte doch nur, daß du dich nicht wegwirfst, daß du wartest, bis der Richtige kommt!“
„Peter ist der Richtige!“
„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Die Mutter versuchte, ihre Tochter in die Arme zu schließen.
Sabine wich ihr aus, holte tief Atem und zwang sich, ruhiger zu werden. „Mutti, du verstehst mich nicht. Wir sprechen zwei verschiedene Sprachen Es hat keinen Sinn . . .“
Frau Kortner schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern begannen zu zucken. „Du liebst mich nicht mehr“, preßte sie unter Schluchzen hervor. „Du haßt mich!“
„Mutti, ich flehe dich an . . .“ Sabine zitterte vor Erregung. Sie ballte die Hände.
„Was bin ich denn noch für dich?“ weinte die Mutter. „Deine Putzfrau, deine Haushälterin. Gut genug, für dich zu sorgen. Damit du Zeit für deine Vergnügungen hast. Damit du dich mit Männern herumtreiben kannst . . .“
„Mutti, du bist ungerecht!“ Mit letzter Kraft bewahrte Sabine ihre Fassung.
„Ungerecht?“ Frau Kortner sah ihre Tochter aus tränennassen Augen an. „Das mußt du mir sagen, du . . . du undankbares Geschöpf. Ich, deine Mutter, habe alles für dich getan. Ich habe mir selbst keine Freude gegönnt. Du hast mich ausgenutzt...“
Sabine schloß erschüttert die Augen. Ein dumpfer Schmerz erfüllte ihr Herz.
„Ich werde dich nicht länger ausnutzen“, sagte sie mit tonloser Stimme. „Du willst frei sein. Und ich will frei sein. Also muß ich gehen . . .“
Sie drehte sich um und lief in ihr Zimmer.
„Sabine!“ schrie ihre Mutter und stürzte hinterher. Sie sah, wie Sabine den kleinen Koffer vom Schrank riß . . .
Es war alles so wie schon vor zwei Tagen, als es Streit gab, weil Sabine sehr spät nach Hause gekommen war. An diesem Abend hatte sie Peter Hartmann kennengelernt.
Frau Kortner glaubte nicht, daß ihre Tochter Ernst machen würde, denn auch vor zwei Tagen hatte sie sich schließlich anders besonnen.
Sabine handelte wie mechanisch. Wieder packte sie nur das Nötigste in den kleinen Koffer. Sie schlug den Deckel zu, drückte die Schlösser fest und faßte nach dem Griff.
Maria Kortner stand in der Tür und versperrte den Weg. „Willst du wirklich fort?“ fragte sie ängstlich.
„Ja, Mutti“, antwortete Sabine ruhig. „Es ist besser so. Ich gehe, weil ich dich liebhabe. Ich weiß, wenn ich bliebe, müßte ich dich eines Tages wirklich hassen. Denn du kannst nicht anders, du würdest mich immer nur bevormunden, wie ein Kind behandeln. Ich aber möchte endlich mein eigenes Leben führen dürfen.“
Frau Kortner streckte die Arme aus. „Kind, mach doch keine Dummheiten. Überschlaf es, und morgen ist dann alles wieder gut. Ich verspreche dir . . .“
„Mutti, versprich doch nichts!“
Frau Kortners Stimme wurde wieder schriller. „Gib es doch zu, du willst nur zu diesem Kerl!“
Sabine lächelte voller Wehmut. „Es hat keinen Sinn. Du fängst schon wieder an . . .“ Sie trat auf ihre Mutter zu, zog sie für ein paar Augenblicke in die Arme und küßte sie mit steifen Lippen. „Leb wohl. Ich danke dir für alles. Ich weiß, du hast es gut mit mir gemeint. Aber es geht nicht mehr weiter. Wir können beide nicht mehr frei atmen.“
Sanft drückte sie ihre Mutter zur Seite und verließ mit dem kleinen Koffer das Zimmer, das sie fast zwanzig Jahre lang bewohnt hatte. Dieses Zimmer war ein Stück ihres Lebens . . .
Ein starker Donnerschlag ertönte.
„Ein Gewitter!“ sagte die Mutter beschwörend. „Du kannst doch jetzt nicht auf die Straße! Warte doch wenigstens, bis . . .“
Sabine nahm wortlos ihren Regenmantel vom Garderobenhaken.
„Wo willst du denn hin?“ fragte die Mutter. „Wer wird dich aufnehmen? Du gehst wirklich nicht zu diesem Mann?“
„Nein“, antwortete Sabine und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen. Peter, warum bist du heute nicht gekommen? Hat dein Vater es dir wirklich verboten? Oder bist du wieder nur geschäftlich verhindert worden? Fragen, auf die Sabine jetzt keine Antwort wußte.
Sie zog ihren Mantel an, „Ich gehe zu meiner Freundin Trudi. Und schon morgen werde ich mir ein Zimmer suchen. Ich hole dann meine Sachen.“ Sie sah ihre Mutter noch einmal voll an. „Auf Wiedersehen, Mutti. Wenn du willst, komme ich dich besuchen. So oft wie möglich. Aber jetzt muß ich gehen, es tut mir selbst weh . . .“
Die letzten Worte konnte sie nur noch flüstern. Sie griff nach ihrer Handtasche, faßte den kleinen Koffer fester und öffnete die Wohnungstür. Sie wußte: Ihre Kraft war erschöpft. Nur noch wenige Sekunden, und ihr Entschluß würde zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Und alles würde von vorn beginnen, die ewigen Vorwürfe, die endlosen Ermahnungen: Tu das nicht, tu jenes nicht . . .
Als die Wohnungstür mit einem leisen Ton hinter ihr ins Schloß fiel, war es Sabine, als zerreiße etwas in ihrem Herzen. Die Tränen schossen aus den Augen hervor und machten sie blind. Sie lief die Treppe hinunter, stolperte, fing sich wieder, lief weiter. Verzweiflung wühlte ihr Inneres auf. Das Bewußtsein, ihre Kindheit hinter sich zu lassen, erschütterte sie zutiefst. Ich darf nicht umkehren! hämmerte sie sich ein. Ich darf nicht . . . Doch sie hatte plötzlich Angst vor der Zukunft. Peter, du mußt mir helfen. Wenn du mich noch liebst . . .
Sie rannte auf die Straße hinaus, hastete weiter. Regen schlug ihr entgegen. Der schwarze Himmel wurde von grellen Blitzen zerrissen. Donnerschläge hallten zwischen den Mietshäusern wider.
Sabine spürte, sah und hörte nichts. Ihre Füße trugen sie mechanisch weiter, die Goethestraße entlang, hinein in die Schwanthaler Straße.
„Mutti“, kam es leise über ihre Lippen.
Ihre Augen waren blind von Tränen der Verzweiflung.
„Mutti, verzeih mir, aber ich wußte keinen anderen Ausweg . . .“ Reue brach über sie herein, zog ihr das Herz zusammen.
Sabine wollte über die Straße. Sie verließ den Bürgersteig und achtete nicht auf das Auto, sie sah es gar nicht.
Plötzlich waren die Scheinwerfer vor ihr, wie gierige Arme. Reifen quietschten. Es war zu spät.
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