1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Kimi konnte sich gut daran erinnern, wie er mühsam ein paar Plattheiten hervorgestammelt hatte. Er wollte nicht zugeben, dass er eigentlich den Nachbarartikel über die Entlarvung von gefälschter Kunst mithilfe von Lumineszenz und ultraviolettem Licht gelesen hatte. Tags darauf besuchte er sie in der Galerie, und während sie ihn durch die Ausstellung führte, punktete er mit seinem Wissen aus Unizeiten. Er hatte die chemischen Bestandteile der Temperafarben noch parat und konnte Ulrikas Interesse mit einer kurzen Zusammenfassung der neuesten Erkenntnisse über Olle Bærtling gewinnen. Man hatte herausbekommen, dass die Seitenlinien der berühmten Bærtling’schen Dreiecke leicht gekrümmt waren, damit Dreiecke aus dunkleren Farben nicht die optische Täuschung einer gebogenen Linie verursachten. Kimi hatte sich sicher gefühlt, sich aus der Deckung gewagt, entspannte sich. Eine Frau, die sich die Galerie mit Dreiecken vollhängte, konnte unmöglich nur an Äußerlichkeiten interessiert sein. Diese Ulrika schien ihn richtig ernst zu nehmen. Als er ihr ein paar Tage später gestand, dass er Fotomodell sei, hatte sie lediglich »Ich weiß« erwidert.
»Hallo? Bist du es, mein Liebling?« Ihre Stimme wurde eine Spur heller, auch das klang schön, fand Kimi.
»Natürlich geht es mir gut. Nein, nicht nur so lala? Ich meine, so richtig gut, gut! Ja, auch morgens und mittags und auch abends.«
Ihre Verfassung war stabil, er machte sich aber trotzdem Sorgen um sie. Es war schließlich ihr erstes Mal, viele Frauen mussten sich anfangs häufig übergeben.
»Ob ich schon eine Bewegung spüre? Nicht wirklich. So schnell geht das bei den Primaten nicht, du Naturwissenschaftler!«
Und dann plätscherte ihr Gespräch fröhlich weiter. Über alle möglichen Themen unterhielten sie sich, als wollten beide den jeweils anderen in die eigene Welt einladen, zu all ihren großen und kleinen Begebenheiten, zu Wichtigem und Unwichtigem, Schönem und Traurigem. Die Verhandlungen mit dem Museum of Modern Art über eine Leihgabe gingen nur schleppend voran. Versicherungsquatsch. Hallins Wiederwahl zum Vorsitzenden der Wohnungsbaugenossenschaft. Wie zu erwarten. Es regnete. Typisch Göteborg. Und so weiter, von beiden Seiten. Ausführlich und fröhlich. Er begriff nicht, warum er überhaupt gezögert hatte, sie anzurufen.
Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Kantine schloss in diesem Moment. Sie unterhielten sich über Lakritze.
»Ich sage nur, Pica-Syndrom!«, kicherte Kimi.
»Ich habe schon immer gerne den ganzen Tag Lakritz in mich reingeschaufelt. Hab mich nur nicht getraut, es zuzugeben.«
»Hmm ...«
»Und apropos, diese Sache da mit dem hohen Messwert, dieses Gas, das kam und ging. Weißt du? Das ist über zwei Jahre her.«
»Was ist zwei Jahre her?«
»Dass du mir von deinen Forschungen erzählt hast. Also, mehr als dein bloßes Reiseziel.«
»So lange kann das doch gar nicht her sein.«
»Stimmt, es ist noch länger her.«
»Ich glaube einfach nicht, dass du mehr über meine Arbeit hören willst.«
»Natürlich will ich das!«
»Das sagst du nur, weil du so wenig davon weißt, wie es läuft und sich anfühlt und so!«
Sie ließ diesen Ball, den er ihr zuspielte, vorbeirollen, erwiderte nichts darauf, murmelte nur leise etwas über seine »Callboy-Noia«, so als sei es ein Stau, eine Zecke oder eine Gastritis. Nicht gut, nicht beliebt, aber nur vorübergehend. Man konnte damit leben, aber genauso gut auch ohne sein. Sie zumindest.
Es sah aus wie die Geburt eines Schiffes, befreit aus der engen Welt – entlassen in eine neue. Zwei schwere Stahltore schützten das kleine Hafenbecken vor der unsicheren Zukunft, in die das Schiff fuhr. Auch die sechs Mitglieder an Bord empfanden das so. Es war eine Wiedergeburt.
Diana stand am Ruder, fünf Speichen und mit Glanzlack gestrichen. Betont vorsichtig steuerte sie den schlanken Schiffskörper auf seinem Weg zur Schleuse um die erste Steinmole. Ab und zu wurden sie von einer Windböe getroffen, die von den hohen Backsteinhäusern am Ufer herüberstrich, trotz dieser kleinen Zwischenfälle gelang es ihr, ohne Einsatz der Bugschraube die S/Y Guillemot sicher zu der kleinen Klappbrücke zu manövrieren. Die Leute beobachteten das Schiff, zeigten mit den Fingern darauf und unterhielten sich darüber. Einige von ihnen mussten warten, bis der Steg wieder freigegeben wurde, andere hatten ihr Bierglas in der Hand und freuten sich auf ein Mittagessen. Es war warm, Jacken hingen über den Stuhllehnen, und die Frauen hatten nackte Beine. »Mast- und Schotbruch, Guillemot!«, rief ihnen ein verschwitzter Mann mit hoch gekrempelten Hemdsärmeln und einem Bierkrug in der Hand zu.
»Auf in den Kampf!«, schrie Diana zurück. Vor wenigen Wochen noch hätte so ein Spruch Mordgelüste in ihr ausgelöst. Das Heer von gesprächigen Herren, die in ihrer Mittagspause das Schiff musterten, war immer sarkastischer und spöttischer geworden. Sie konnte es sogar verstehen, das Schiff hatte sehr lange, zu lange in den St. Katharine Docks gelegen. Und im Vergleich zu dem hehren Ziel der Guillemot war es natürlich viel zu kostspielig und luxuriös ausgestattet, eine großzügige Zielscheibe bissiger Ironie für Umweltschützer jedweder Couleur.
Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Bald würden sie das offene Meer erreicht haben. Sie verließen das kleinere, schattige Schleusenbecken und erreichten das mittlere. Hinter ihnen senkte sich der Steg der kleinen Klappbrücke. Die letzte Brücke vor der Ausfahrt war bereits hochgezogen, und die Schleusentore öffneten sich langsam. »Das ist ja total krank mit diesen ganzen Dosen!«, stieß Abraham hervor, während er einen Fender an der Steuerbordseite befestigte.
Die Schleusentore setzten eine Welle aus Cola- und Bierdosen in Bewegung.
»Das ist eine verdammte Ressourcenverschwendung, so was. Warum holt keiner den Dreck da raus?«
Abrahams Gedanken machten Diana noch vergnügter. Dieselbe Person hatte diese Dosen nämlich ein halbes Jahr vor der Nase gehabt, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren. Sie bemerkte die Veränderung. Alle erwachten langsam aus ihrer Lethargie, sie waren bereit.
Sie beobachtete Abraham. Ein Kosmopolit mit israelischem Pass. Er hatte einen zwanzigjährigen Sohn, dessen Militärdienst ihm Kummer bereitete. In seinem robusten Körper ruhte eine friedfertige Seele, ausgestattet mit einem großen Maß an Empathie für die Umwelt und für das Wohl anderer Menschen. Wenn jemand in seiner Umgebung hervorhob, wie nett er sei, erwiderte er immer, dass er eigentlich als Buddhist hätte geboren werden und ein Leben zwischen zufriedenen Kühen in einem schönen, friedlichen Tal führen sollen. Aber dann habe es da wohl ein logistisches Problem gegeben und darum sei er in Tel Aviv gelandet. In diesem Augenblick blinzelten seine braunen Augen durch eine Harry-Potter-Brille und betrachteten ein Hotel, das sich am Ufer erhob.
»Sieht aus wie ein Bunker in Bethlehem«, brummelte er vor sich hin und fügte dann lauter hinzu: »Flaggen einholen, Boss?«
»Lass sie dran!«
Diana hielt sich nicht an die Regel, die große Beflaggung nur im Hafen gestattete. Sie mochte den Anblick der bunten Kette, Weißblau folgte Hellrot, dann kam Blauweißrot gestreift und so weiter, das ganze Flaggen-Alphabet kletterte das Achterstag hoch, kam das Vorstag wieder herunter und endete mit dem rotgelben Nullwimpel am Bugkorb. Seit Tandons Erkrankung war auf dem Schiff keine Flagge mehr gehisst worden. Farbe und Glanz waren Mangelware an Bord gewesen, jetzt konnten sie auch mal ruhigen Gewissens die Strecke bis Tilbury wie eine blühende Gärtnerei unterwegs sein.
»Willst du übernehmen, Peter?«
»Gern!«, antwortete der Kapitän und krempelte die Ärmel seines marineblauen Pullovers hoch. Die römische Locke, die ihm in die Stirn fiel, bewegte sich im Wind, als er das Ruder in die Hand nahm.
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