»Okay«, sagte sie dann. »Was soll ich tun? Wie lautet mein Auftrag?«
»Sie sollen nach Ny-Ålesund fahren, wohin Sie ja auch eingeladen wurden, und dort das Ballonexperiment überwachen!«
»Überwachen?«
»Betrachten Sie sich als eine Beobachterin, wenn Sie so wollen, von der UN, oder als eine Gesandte der Regierung. Jemand, der sich umsieht, Fragen stellt, Recherchen vornimmt. Oder als eine Auslandsreporterin.«
»Ist das alles?«, fragte Diana erstaunt.
»Ja, das ist alles«, erwiderte die Stimme, fügte jedoch nach einer Kunstpause, die durch die Satellitenverbindung noch verlängert wurde, hinzu, »vorerst.«
Nachdem sie die Antenne wieder ins Telefon geschoben hatte, fragte sie sich, warum sie eigentlich ein Satellitentelefon benutzen sollte. Vielleicht war er davon ausgegangen, dass sie die meiste Zeit auf See sein würde, oder zumindest nicht in der Nähe eines Funknetzes. Aber vielleicht wollte er auch die Nummer als Identifikation haben. Aber diese Ungereimtheiten waren unwichtig, bedeutungslos im Vergleich zu den Antworten, die sie auf ihre Fragen erhalten hatte.
Sie zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste sie, dass von ihr eine Gegenleistung verlangt werden würde, aber eben nicht, was für eine. Nach wie vor war ihr Auftrag unklar und unergründlich, aber sie ahnte bereits mit Unbehagen, dass sie ihren Gastgeber Emil Planck hintergehen sollte.
Auf dem Rückweg hielt sie kurz an, rieb sich die Wangen rot, ging zügig weiter und blieb dann vor einem Schaufenster mit Elektrowerkzeug stehen, in dem sie sich spiegeln konnte. Sie gab vor, sehr an einer Stichsäge interessiert zu sein. Vorsichtig warf sie den Kopf in den Nacken und schob dann die Kapuze ihrer Jacke auf dem Kopf hin und her. Sie wiederholte diese Bewegung immer wieder. Ihr dunkelblondes Haar stand ihr wie ein Reifrock vom Kopf ab, so wie früher, wenn sie ihre Lachexplosionen nicht zurückhalten konnte und den Kopf so in den Nacken warf. Sie war sich dessen nie bewusst gewesen und hatte es zum ersten Mal bei der Ausstrahlung eines Fernsehbeitrags entdeckt. Genauso sollte es jetzt aussehen.
Niemand sollte aus ihrem kurzen Ausflug irgendwelche Rückschlüsse ziehen können, noch nicht einmal erahnen, was sich da anbahnte.
Karen saß mit Zigarette im Mund an Deck, trotz Rauchverbot. Sie sah, wie Diana die schattige Allee herunter auf die Anlegestelle zukam, als würde sie aus einer Grotte auftauchen. Karen registrierte ihre veränderte Körperhaltung, aufrechter als zuvor, in gewisser Weise stolzer. Sie folgte Dianas Gestalt, deren kraftvoller Gang ihre Haare zu Berge stehen ließ.
Was glaubst du eigentlich, wem du was vormachen kannst?, dachte Karen. Natürlich war sie telefonieren. Was sollte sonst in ihrer ausgebeulten Jackentasche liegen? Eine alte Packung After Eight? Aber warum rief sie nicht vom Boot aus an? Sehr verdächtig. Sie schnippte den Zigarettenstummel weg, der mit einem wütenden Zischen im Wasser versank. Dass sie bloß nichts Dummes anstellte. Oder sogar Serve Earth in Gefahr brachte.
Lässig kam Diana den Ponton entlangstolziert.
»Willst du nicht an Land, Karen?«
»Mal sehen. Hast du gesehen, ob die Post geöffnet ist?«
»Ähm ... Nein, das habe ich nicht.«
»Und der Bäcker?«, fragte Karen und sah zu Boden.
»Nein.«
»Nee, klar.«
»Aber du«, setzte Diana nach. »Siehst du die weißen Vögel da hinten? Sind das Sturmvögel?«
»Nein. Schwäne«, zischte Karen, als sie merkte, dass Diana unbedingt das Thema wechseln wollte. Jeder hätte auf diese Entfernung Basstölpel erkannt. Karen stand wortlos auf und hisste die kleine norwegische Gastlandflagge unter der Backbord-Saling.
Wer behauptete, Moskau sei grau und kalt, der hatte weder richtiges Grau noch richtige Kälte erlebt, fand Gusin, als er wieder in seinem Arbeitszimmer in Lesojansk saß. Der Boden vor seinem Fenster war bedeckt von einer frischen Schneeschicht, die Bäume trugen Raureif, und der Himmel hatte dieselbe graue Farbe wie der Rauch aus den Schornsteinen. Es sah aus, als würde der Himmel in Lesojansk hergestellt und aus den großen, grauen Zementschornsteinen hinauf in die Atmosphäre gepustet werden. Die gesamte Natur war farblos.
Gusin nahm einen letzten Bissen und warf den Rest in den Mülleimer. Er stand auf, sah sich suchend um, und sein Blick fiel auf die Stoffserviette unter der Glaskaraffe im Regal hinter seinem Schreibtisch. Er hob das Kristallgefäß hoch und versuchte das klebrige Zeug an seinen Fingern an dem steifen Stoff abzuwischen. Es gelang ihm nur teilweise, und er warf das Tuch ebenfalls in den Mülleimer. Er war nicht zufrieden mit dem Experiment, das gute Vollkornbrot durch Blätterteig zu ersetzen. Was seine Sekretärin da in einem Brotkorb auf seinen Schreibtisch hingestellt hatte, sollte wohl einem Croissant ähneln. Nur war der Bäcker noch nie in Paris gewesen, sondern nur in Archangelsk und hatte deshalb als Kompensation einfach alles unter Zucker begraben. Fürchterlich klebrig. Er würde es Jelena morgen sagen. Heute war es zu spät, denn er war allein im Bü-ro.
Das Telefon klingelte, Gusin zuckte zusammen.
»Hallo! Alles prima ... Nein, ich muss noch ein bisschen weitermachen, esst ihr schon mal ... Ich habe im Flieger was bekommen ... Herrlich. Die Palmen bogen sich im Wind, Kinder liefen in Shorts über den Rasen ... Nein, noch nicht. Natürlich war ich da, um den Leuten die Aktien zu verkaufen, aber es sind nicht meine eigenen. Ich habe doch keine. Nur Optionen, das ist alles. So macht man heutzutage Geld ... Nein, ich habe die Optionen nicht verkauft ... Es ist so: Falls, oder sagen wir lieber, wenn LesAl in London an der Börse eingeführt wird, kann ich für einen festen Preis selbst Aktien kaufen. Wenn die Aktie höher gehandelt wird als der Buchwert bei ihrer Einführung, kann ich sie sofort wieder verkaufen und sehr reich werden ... Nein, nicht reicher als Tretjakow ... Ja, von ihm habe ich ja die Kaufoption geschenkt bekommen ... Ihn kann man wohl kaum als Weihnachtswichtel bezeichnen, ich habe die vor einiger Zeit als eine Art Lohn bekommen ... Nein, das wird alles gutgehen ... Ja, schon, ach was, nein, ich bin nicht nervös. Tretjakow weiß, was er tut, und das weiß ich auch, Küsschen, meine Süße, warte nicht auf mich.«
Gusin legte auf und seufzte. Tretjakow wusste bestimmt, was er tat, aber es war leider nicht selbstverständlich, dass ihm das zugute kommen würde.
Vor sich hatte er einen fürchterlichen Wälzer liegen. Ungefähr dreihundert Seiten, der genaue Umfang war schwer zu schätzen, weil jeder Anhang aufs Neue nummeriert war. Die Hälfte der Seiten hatte nur eine Überschrift und war ansonsten leer, aber die andere Hälfte war von oben bis unten beschrieben und mit auffälligen schwarzen Punkten versehen, die signalisierten, dass hier noch Zahlen fehlten. Zweifelsohne würden sich die Bankiers noch zu Tode schuften müssen, bis alles in diesem umfangreichen Prospekt bis aufs letzte Kommazeichen stimmte. Das ärgerte Gusin aus zweierlei Gründen sehr. Zum einen, weil sie ganze sechs Prozent aller Einnahmen vom Börsengang der LesAl-Aktie einkassierten und das viel Geld war, womöglich sogar mehr, als er selbst herausbekommen würde. Zum anderen zwangen sie ihn, spät abends allein in seinem Arbeitszimmer zu sitzen und ohne richtiges Essen im Magen einen ganzen Vertragsabschnitt gegenzulesen.
Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und ließ den Kopf so tief in die Hände sinken, dass seine buschigen Augenbrauen an den Fingern kitzelten. Gelangweilt blätterte er den ungebundenen Stapel durch. Der Schriftgrad war sehr klein, abgesehen von dem LesAl-Logo in der obersten Zeile der ersten Seite. Die Namen der Bankiers waren vornehm klein gehalten, nicht einmal der Name des Koordinators aus London war größer als elf Punkt, und die übrigen Banken im Konsortium konnte man kaum ausmachen. Mit sechs Prozent Gewinn von mehreren Millionen Dollar kann man sich ein gewisses Maß an Diskretion auch leisten. Na, prima, hier hatte er es, bereits auf Seite vierzehn ging es los mit den »Risikofaktoren«.
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