»Genau so!«, antwortete Kimi.
»Alles klar, du spielst Labyrinth-Spiele. Dann ist es ja auch kein Wunder, dass du nichts publizierst«, erwiderte Ulrika. Er konnte sich genau daran erinnern, wie sehr ihn das verletzt hatte. Ihr lautes Lachen war zwar sofort verstummt, als sie bemerkt hatte, wie sich seine Miene verfinsterte, und sie hatte ihn geküsst und sich entschuldigt und ihn gebeten, bitte mehr von seiner Arbeit zu erzählen.
Kimi versuchte, diesen Gedanken abzuschütteln, und drehte einfach so an einem der Ventile. Sanft und leise hätte diese Bewegung einen Probenzylinder geöffnet, wenn er befestigt gewesen wäre. Aber jetzt geschah nichts weiter. Die einzigen Geräusche im Labor waren die entfernten und gedämpften Stimmen der beiden norwegischen Kollegen im Nebenzimmer.
Kimi war es gewöhnt, allein zu arbeiten, daran gewöhnt, dass Kontakte hier rein oberflächlich waren, dass ein Handschlag keine Konsequenzen hatte. Warum die beiden Norweger auf Abstand blieben, wusste Kimi allerdings nicht genau. Er hatte sich schon längere Zeit nicht mehr genauer im Spiegel angesehen, bestimmt ein paar Tage, aber die Bartstoppeln konnte er sowohl fühlen als auch in der glänzenden Oberfläche des Chromatographen sehen. Vielleicht sollte er sich einen Vollbart wachsen lassen, so einen ungepflegten Zottel wie die Polarfahrer des 19. Jahrhunderts. Einen Shackletonbart, der fast das ganze Gesicht verdeckte. Würde er dann weniger abweisend wirken? Kimi drehte sein Kinn hin und her und versuchte, sich das Ergebnis vorzustellen. Es wäre schon ziemlich ironisch, wenn ausgerechnet Haare ihm bei seiner neuen Karriere helfen würden, nachdem sie ihn aus seiner alten katapultiert hatten.
Es war während einer Kampagne für ein neues Herrenparfum geschehen, alles war superheimlich, er hatte das Wort Kouros vorher noch nie gehört. Eines Morgens hatte Kimi seinen Rasierapparat liegenlassen, und schon am nächsten Tag war die erste kleine Spitze vom Fotografen gekommen. Einen Tag lang war Ruhe gewesen, sie machten mehrere Aufnahmen, aber schon am nächsten Nachmittag nahm ihn der Art Director beiseite und fragte ihn in seinem Büro, was er sich dabei eigentlich denken würde. Er redete von Knubbeln und Placken und den grundlegenden Prinzipien der Ästhetik. Das Aussehen des Kinns sei ja praktisch eine Privatangelegenheit und gehöre zu dem Image, das sich das Model aussuchte und als Paket anbot. Aber der Torso sei in keiner Weise verhandelbar. Haarstoppeln auf der Brust seien sozusagen gleichbedeutend mit dem Abschied von der Arbeit als Profi, ganz besonders, wenn man welche auf dem Bauch habe. »Du hast vielleicht eine Zukunft in Versandhauskatalogen!«, hatte der Art Director Kimi angeschrien. »Reklame für lange Unterhosen kannst du machen. In Finnland oder wo zum Teufel du herkommst!«
Ein paar Tage später war er wieder zu Hause bei Ulrika gewesen, und nur einen Monat später hatte er geglaubt, die Tür zu seinem neuen, lang ersehnten Leben aufgestoßen zu haben. Er hatte sich als Doktorand im Klimatologischen Institut von Göteborg eingeschrieben.
Was seine Kollegen im Nachbarzimmer anbetraf, so wusste er ja nicht einmal, ob es tatsächlich sein Aussehen war, das sie so abweisend sein ließ. Grund könnte ja auch seine berufliche Qualifikation sein. Da half auch kein Vollbart, egal wie verfilzt und wuschelig der war.
Das war alles so absurd. Er befand sich in dem wohl exklusivsten Forschungsmilieu, umgeben von Instrumenten, von denen er früher nur hatte träumen können, und konnte nichts bewerkstelligen, während die Zeit unaufhaltsam verstrich. Die Freude über die Entdeckung des einzigen Höchstwertes, der gewaltige Anstieg der Kurve am 12. Februar, hatte sehr schnell nachgelassen, als er das Ergebnis keinem bekannten Muster hatte zuordnen können.
Emil Planck, wo stecken Sie bloß?
Vierundzwanzig Stunden war es her, seit ihn die Polizei von Uppsala angerufen hatte. Ein Kommissar Lind hatte ihm einige Fragen gestellt. Kimis Antworten fielen so kurz und allgemein aus, wie man es von jemandem erwarten kann, der Planck genau einmal getroffen hat und weder etwas gesehen noch gehört hatte. Nach dem Gespräch hatte ihm Lind noch eine E-Mail geschrieben und ihn gefragt, wer sonst noch etwas über den Verschwundenen wissen könnte. Kimi hatte ihm alle Nummern und Adressen zugeschickt, die ihm selbst allerdings ja auch nicht weitergeholfen hatten.
Lautes Gelächter drang in seinen Teil des Labors, wie ein verirrter Zugvogel, und wurde gefolgt von mehreren unverständlichen norwegischen Sätzen, die alle am Satzende nach oben gingen. Es störte ihn, nicht dazuzugehören.
Kimi fasste einen Beschluss und ging mit schnellen Schritten auf den Chromatographen zu, vorbei an dem Tisch für die Probenpräparierung und den Regalen mit den Handbüchern und der Sekundärliteratur. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf die Papierstapel auf Plancks Schreibtisch. Er zog sich den Stuhl ran und nahm aufs Geratewohl ein Blatt von einem Haufen.
»Genial!«, brüllte er. Er wiederholte seinen Aufschrei erneut, es hatte Wirkung gezeigt. »Genial!«
Die Unterhaltung im Nachbarzimmer verstummte.
»Endlich!«, schrie Kimi.
Nebenan wurde ein Stuhl über den Boden geschoben. Zuerst kam Harald, dessen gesprenkelte Halbglatze Kimi zu dem Spitznamen ›Harald Schönhaar‹ inspirierte, in Anlehnung an den ersten norwegischen König. Er stand eine Weile mit seinem fusseligen Wollpullover im Türrahmen und näherte sich dem sitzenden Gastforscher zögernd von hinten, als dieser erneut aufschrie: »Verdammt clever!« Dann warf er den Zettel, dessen genaues Studium er vorgegeben hatte, auf den Schreibtisch zurück.
»Wissen Sie was, Harald, dieses Experiment hat das Zeug dazu, der Clou dieser Saison hier oben zu werden!«
»Clou?«
»Das Ding, das einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Ereignisse, die unvergessen bleiben. Das, was auf dem Einband des Jahrbuchs steht. Der Clou der Saison eben!«
»Ja ...?«
»Überrascht Sie das? Wie viele Wetterballons sind bisher von hier losgeschickt worden?«
Harald Schönhaar zögerte ein bisschen mit einer Antwort. Sein kleinwüchsiger Kollege, der das Thema Polarbart bereits erfolgreich bearbeitet hatte, erschien ebenfalls in der Tür. Er trug eine braune Strickjacke, in deren Taschen er viel zu schwere Gegenstände gestopft hatte.
»Sie könnten recht haben, dass es der erste Ballon ist. Zumindest in der Größenordnung. Aber Plancks Markenzeichen war schon immer ›groß und teuer‹.«
Sein Kollege starrte zu Boden und gab keine Hilfestellung.
»Das wird bestimmt ein Knaller, eine Sensation! Oder, was meinen Sie?« Kimi verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er mit der Hand so fest auf den Schreibtisch hieb, dass die Computermaus in die Luft flog. »Und mit so einem Instrument« – er drehte sich um und zeigte auf den Chromatographen – »wird es gelingen, die geringsten Spuren in den Luftproben aus der Stratosphäre aufzuspüren.«
»Ja, der Hoffnung kann man sein!« Der Kollege wagte einen ersten, zarten Vorstoß zur Kommunikation.
»Wenn ich von einem Ballon aus dreitausend Metern Höhe auf die Erde geschleudert werden würde, dann würde ich genau in diesem Instrument untersucht werden wollen«, Kimi sah die befremdeten Blicke seiner Gesprächspartner und fügte hinzu: »Na, Sie wissen schon, wie ich das meine.«
»Das Ballonexperiment könnte die einzigartige Möglichkeit bieten, jene Treibhausgase zu erforschen, von denen man bisher kaum Proben bekam. Aber, wie soll man sagen, Emil Planck hat sehr zurückgezogen gearbeitet. Und mit seiner Umwelt hat er hauptsächlich über Antragsformulare, Protokolle und Berichte kommuniziert.«
»Die im übrigen brillant und knapp, aber auch uralt waren, wenn sie dann endlich eingereicht wurden«, ergänzte der Kleinwüchsige und betrat zum ersten Mal seit Kimis Ankunft in Ny-Ålesund diesen Teil des Labors, den Emil Planck mit seinen Analyseinstrumenten, seinem Kabelsalat und seinen Papierbergen bezogen hatte.
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