Es sah alles so eingefroren aus, fand Diana. Nicht nur wegen des Schnees und des Gletschereises, vielmehr wirkte das ganze Land wie erstarrt. Als würden sie sich einem Ort nähern, an dem nichts wächst, nichts lebt und nichts geschieht. Eine Zone, die einerseits abstoßend wirkt, ungeeignet für den Menschen, andererseits einladend, so unglaublich schön durch die Stille und seine skulpturale Größe.
Diana beobachtete die Besatzungsmitglieder, wie diese einer nach dem anderen an Deck kletterten. Vanessa kam als Erste, vollführte einen kleinen Freudensprung mit passendem Laut, streckte Diana den hochgestellten Daumen entgegen und lief schnell wieder unter Deck, um sich dicker anzuziehen. Abraham ging, ohne zu zögern, zum Bug, setzte sich auf den Vordersteven und ließ die Beine zu beiden Seiten herunterbaumeln. Wenn man an der Haltung eines Rückens erkennen kann, dass jemand den Anblick einer Landschaft genießt, war das in Abrahams Fall so. Karen kam hoch, die Kopfhörer ihres mp3-Players tief in die Gehörgänge gepresst, sah sich kurz um, verschwand wieder unter Deck und blieb dort. Klaus schließlich erschien mit einer Videokamera in der Hand, drehte um, kehrte mit einem Fotoapparat zurück, tauschte diesen erneut gegen die Videokamera, versuchte dann beide gleichzeitig zu benutzen, kletterte ein letztes Mal unter Deck, um dann ohne ein Gerät nach oben zu kommen, sich in den Sitzbrunnen zu hocken und die Aussicht zu genießen, und um dann einen letzten Versuch mit der Videokamera zu starten.
»Entspann dich, Klaus«, sagte Diana und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Das ist morgen auch noch alles da und übermorgen und auch noch viele Jahre – hoffentlich.«
Als der rostfreie Anker sank und sich in den lehmigen Meeresboden der Thiisbucht vor Ny-Ålesund grub, war es kurz vor neun Uhr. Über die flache Ebene im Westen holperte ein verdrecktes Auto auf eine große Parabolantenne zu. Durchs Fernglas sah Diana drei Personen, zwei in einem roten Anorak, eine in einer blauen Daunenjacke. Sie liefen in verschiedene Richtungen.
Zu ihnen kam keiner.
Michail Gusin hatte mit der ausgestreckten Hand zur Tür gewiesen, und sein Sohn verschwand mit gesenktem Blick durch den Dienstboteneingang. Er schloss hinter ihm die Tür. Lilja klappte eine dicke Zeitschrift zu, deren Titelblatt von einem großen, verputzten Haus geschmückt war, das man durch eine geschmiedete Gartenpforte betrachtete, und legte sie oben auf einen Stapel ähnlicher Magazine. Das glatte Papier der Hochglanzzeitschriften brachte den Stapel ins Rutschen, und er ergoss sich über den Esstisch.
»Ehrlich gesagt, mein Liebster, weißt du doch, dass mir Moskau vollkommen genügen würde. Ich glaube, ich könnte dort glücklich werden. Eine Wohnung im Arbat-Viertel oder ein eigenes Häuschen in einem der neuen Vororte, ein ganz neues. Einen Garten. Einen Garten, in dem Bäume stehen und Blumen wachsen.«
»In Russland gibt es keine Rechtssicherheit mehr«, brummte Gusin und bemühte sich, Gelassenheit auszustrahlen. »Du weißt, dass ich diese Unsicherheit nicht ertragen kann. Vor allem wegen der Kinder. Auch deinetwegen, natürlich.«
»Aber dir will doch niemand etwas anhaben. Bitte sag, dass dir noch nie gedroht wurde! Sag es!«
»Jeder kann unter Druck gesetzt werden. Nur die kleinen Fische haben nichts zu befürchten.«
Es beunruhigte ihn, dass sie schon wieder darüber diskutierten. Vor einem Monat noch waren sie sich eigentlich einig gewesen, sie hatten nur zu wenig Zeit gehabt, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.
»Sag den Maklern Bescheid, dass sie uns ihre neusten Listen zuschicken sollen. Sie sollen sich auf die Halbinseln konzentrieren. Besonders Cap d’Antibes, das sollte ihnen ordentlich Beine machen. Cap Ferrat ist auch in Ordnung. Monaco lassen wir sausen, wir haben nichts zu verstecken. Oder nein, lieber doch nicht. Lass es auf der Liste, so können wir sie uns besser warmhalten.«
Lilja nickte wie erhofft. Genau genommen musste er eher sie warmhalten als die Makler. Wenn sie nächste Woche nach Nizza fuhr, sollte sie den richtigen Blick für die Objekte haben, die sie sich ansah. Sie brauchte dieses gewisse Kribbeln im Bauch. Sonst würden sie niemals verlockend genug wirken können. Dass die Häuser ihr Geld wert sein würden, war für Lilja ohnehin vollkommen ausgeschlossen.
»Überleg doch mal«, fuhr Gusin fort und legte die Fingerspitzen aneinander, »ein Garten, in dem Wein und Spargel wachsen, Dinge, die Menschen froh machen, wenn sie auf den Tisch kommen. Und viele der Nachbarn sprechen Russisch. Denk an die russische Gemeinde dort, alle Leute, die wir dort kennenlernen können, und es gibt auch viel bessere Schulen für Vitus und Nastja. Stell dir ein kleines Boot vor, mit dem wir durch die Gegend segeln können. Stell dir vor, morgens barfuß die Zeitung zu holen, barfuß durchs Gras!«
Lilja griff nach einem der Magazine mit einem Weinschloss auf dem Titelblatt.
Der Chauffeur hielt die Wagentür auf. Michail Gusin ging die vornehme Treppe hinunter und setzte sich auf den erhöhten Rücksitz. Er lehnte sich zurück, drückte seinen Kopf gegen die Nackenstütze und ließ seinen Atem zur Ruhe kommen. Sein Blick war sehr wachsam. Lilja schloss häufig die Augen, wenn sie durch Lesojansk gefahren wurde, und weigerte sich, durch die abgedunkelten Fensterscheiben zu sehen. Diese Art von Überreaktion zeigte er nicht. Sein Vater hatte bedauert, dass seine Karriere die Familie von Werchojansk über Jakutsk, Magadan und Irkutsk bis nach Barnaul geführt hatte, von der Kälte in die Wärme und nicht andersherum. Der alte Mann hatte befürchtet, dass Michail und seine fünf Brüder zu sehr verweichlichen würden, aber er hatte sich unnötig Sorgen gemacht. Über Michails Lippen war nie ein Wort der Klage gekommen. Auch nicht während seines Militärdienstes, den er in einer unterkühlten Radarstation am Beringsund absolvierte, die in drei langen Jahren kein einziges Flugzeug registrierte. Und auch heute beklagte er sich nicht. Oft gab er sogar vor, er würde Lesojansk und Umgebung schätzen. Die Kälte, die den Alkohol in den Flaschen gefrieren ließ. Die Mückenscharen, deren Population in den kurzen Sommern schier zu explodieren schien. Den Flugplatz, der manchmal wochenlang wegen Unwetter geschlossen wurde und somit den Ort von der Außenwelt abschnitt. Den kalten, steifen Wind, der die eine Hälfte des Jahres von Norden über sie hinwegfegte und die andere Hälfte von Süden kam.
Gusin nahm sich den Stapel Kopien, der neben ihm auf dem Sitz lag. Ein paar Mitarbeiterinnen aus der Wirtschaftsabteilung wechselten sich damit ab, früh morgens die Financial Times , das Wall Street Journal und noch drei weitere Finanzzeitschriften aus dem Internet herunterzuladen, die Artikel zusammenzustellen, auszudrucken und zusammenzuheften. Gusin war zwar zu Ohren gekommen, dass sie sich hinter seinem Rücken darüber lustig machten, dass er die Artikel auf rosa Papier ausgedruckt haben wollte, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihnen das zu erklären. Aha, der Rubel hatte sich gegen den Dollar behauptet, las er da, der Zins war um zwölf Punkte gefallen, die Aktie von West Texas Intermediate war leicht gestiegen, ebenso die Brent-Aktie. Er warf die Unterlagen zurück auf den Sitz. An der gesamten Küste zwischen Cannes und Menton konnte man sich alle fünf Zeitschriften frei Haus liefern lassen, am Erscheinungstag. Bereit, unter der Pergola mit Blick aufs Meer gelesen zu werden. Barfuß.
Schon von weitem konnte er die Hallen mit den Schmelzöfen erkennen, die sich in der kargen und flachen Landschaft erhoben. Diese gewaltigen Hangars, in denen die Schmelzöfen in zwei Reihen standen, strahlten etwas Kraftvolles aus, und das gefiel Gusin. Auf jeden Fall zog er die Fabriken so manch anderen Vergnügungen vor, wie der Jagd zum Beispiel. Witali Tretjakow und seine Gäste auf einer Rentierjagd aus dem Helikopter zu begleiten, wurde zwar von ihm als geschäftsführender Direktor erwartet. Sein Begriff von Männlichkeit jedoch – auch wenn er nicht sicher war, ob es darum wirklich ging – sah anders aus. Er schätzte die massive Urgewalt der Turbinen mehr als die Fluchtsprünge einer Vaja, eines Rentierweibchens. Er sah einen weitaus größeren Reiz in den Tausenden von Amper, mit denen Bauxit gespalten wurde, als in den Todeszuckungen eines Sarven, eines männlichen Rentieres. Schon während seines fünfjährigen Ingenieurstudiums in Nowosibirsk hatte er gelernt, die Schönheit in den Siegen des Menschen über die Natur zu entdecken. LesAl und seine Anlagen spiegelten diesen Kampf in monumentaler und grandioser Weise wider. Er wusste, dass er das vermissen würde.
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