„Hey, das ist mein Taxi!“
Er grinst nur.
„So? Steht da dein Name dran? Krieg dich ein, Mädchen, das hier ist ein Taxistand, da gibt’s noch mehr von diesen Wagen. Ich habe es eilig.“
Spricht, steigt ein und zieht die Tür so schnell hinter sich zu, dass ich keine Chance mehr habe, zu reagieren. Nicht, dass mir so schnell irgendetwas Sinnvolles als Erwiderung eingefallen wäre. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen, aber der Typ hat mir echt die Sprache verschlagen und ich bekomme meine offene Klappe nicht mehr zu.
Mädchen? Hat er mich gerade Mädchen genannt? Für wie alt hält der mich? Zwölf? Okay, ich gebe mit Sicherheit kein schönes Bild ab, in meiner grauen Jogginghose und dem Kapuzenshirt. Meine Schminke hat sich im Laufe der letzten Stunden verabschiedet und meine ursprünglich zu einem straffen Knoten geschlungenen, rotbraunen Haare haben sich halbwegs gelöst und stehen in alle Richtungen ab. Ich muss furchtbar aussehen, aber Mädchen? Auch wenn ich nur 1,63 Meter klein bin und schon immer für jünger gehalten wurde, als ich bin, mit siebenundzwanzig bin ich von Mädchen schon ganz weit entfernt. Heute scheint aber auch wirklich alles schiefzugehen. Na ja, genau genommen die kompletten 48 Stunden, die ich jetzt geschätzt schon auf den Beinen bin.
In Tokio, wo ich das letzte halbe Jahr verbracht habe, um einen Windpark zu planen, zu berechnen und den Beginn des Aufbaus zu überwachen, musste ich am Tag meines Abfluges noch ins Büro, um meinen Nachfolger einzuweisen. Eigentlich sollte der schon seit einer Woche da sein, um die Übergabe zu erleichtern, aber irgendwie hatte er anscheinend Besseres zu tun gehabt und war erst am Abend vor meinem Abflug angekommen, sodass wir die halbe Nacht und den Morgen über, alles in Windeseile besprechen mussten, bevor ich zum Flughafen aufgebrochen bin. Dort angekommen war mein Flieger überbucht und ich konnte von Glück sagen, dass man mich überhaupt mitgenommen hat. Da unser Flugzeug dann auch noch technische Schwierigkeiten hatte, sind wir schon mit fünf Stunden Verspätung in Tokio gestartet und somit ist meine Pufferzone für ein bisschen Schlaf in Toronto von zehn auf fünf Stunden zusammengeschrumpft. Zu wenig Zeit, um ein Hotel aufzusuchen und in der Wartehalle auf harten Plastikstühlen schlafen, geht gar nicht. Also bin ich jetzt seit geschätzten 48 Stunden ohne Schlaf und ich habe das Gefühl, mein Körper vibriert und mein Magen wehrt sich gegen alles vor lauter Kaffeekonsum, während mein Gehirn im absoluten Leerlauf arbeitet. Immer noch kochend vor Wut über diesen arroganten Mistkerl, der mir mein Taxi weggenommen hat, sehe ich dem davonfahrenden Wagen nach und lehne mich erschöpft gegen eine Säule vor dem Flughafengebäude.
Ich schaue hoch in den grauen, wolkenverhangenen Himmel. Nicht ein Sonnenstrahl stiehlt sich durch die Wolken und ich fange an zu frösteln. Die Luft riecht nach den Abgasen der vielen Autos und Reisebusse, die im Minutentakt vor dem Flughafen anhalten, ihre Passagiere und deren Gepäck entladen oder einladen und wieder abfahren. Der Gestank lässt die Übelkeit, die mich seit den Turbulenzen quält, noch stärker werden. Ich muss unbedingt aus der Stadt raus, nach Hause und endlich wieder die frische Meeresluft atmen. Nach Hause. Kann man es so nennen? In den letzten Jahren habe ich meine Wohnung kaum mehr als ein paar Wochen im Jahr genutzt, weil ich ständig beruflich in der ganzen Welt unterwegs war. Von Dänemark bis Japan, überall sind im Laufe der Jahre von mir geplante Windparks entstanden.
Nach ungefähr zwanzig Minuten kommt ein weiteres Taxi, das mir diesmal auch keiner vor der Nase wegschnappt. Aufatmend lasse ich mich in die Polster fallen und gebe dem Fahrer meine Adresse. Er pfeift kurz und fragt, ob ich wüsste, was das kostet, wenn er mich da hinfährt. Ja, weiß ich! Wenn ich irgendwie die Möglichkeit sähe, die Strecke von gut 160 Meilen von Boston nach Boothbay Harbor noch selbst zu fahren, ohne am Steuer einzuschlafen, hätte ich einen Mietwagen genommen, aber ich kann nicht mehr. Und die Firma, bei der ich bis gestern gearbeitet habe, zahlt meine Reisekosten. Auch das Taxi über diese Strecke.
Ein letztes Mal will ich die Annehmlichkeiten, die der Job mit sich brachte, genießen, denn ab morgen bin ich arbeitslos. Ich habe nach diesem letzten Auftrag in Japan gekündigt und überlege mir jetzt in Ruhe, was ich in meinem Leben weiter machen möchte. Auf jeden Fall nicht mehr durch die Weltgeschichte reisen und Windparks planen. Ich möchte sesshaft werden und eine Arbeit haben, die mich wirklich ausfüllt. Die letzten Jahre haben mich ausgebrannt und ich sehne mich nach Ruhe und Beständigkeit. Was, weiß ich noch nicht so genau, aber mir wird schon etwas einfallen. Ich habe in meinem bisherigen Job genug verdient, um mir viele Monate freizunehmen und zum ersten Mal in meinem Leben einfach zu tun und zu lassen, was ich möchte und wie lange ich es möchte.
Mit diesem Gedanken schlafe ich ein und werde erst von einem Rütteln an meiner Schulter wieder wach. Das Taxi hat vor meinem Haus gehalten und der Fahrer hat mich geweckt, damit ich ihn bezahle. Ich schnappe mir meine Handtasche, mein einziges Gepäck im Moment und wanke, noch völlig schlaftrunken, ins Haus.
In meiner kleinen Wohnung im Erdgeschoss lasse ich die Tasche einfach fallen und reiße erst einmal alle Fenster auf. Nach sechs Monaten Abwesenheit ist es ein bisschen muffig hier. Auch wenn meine beste Freundin Annie ab und zu hier war, um meine Post durchzusehen und zu lüften, merkt man doch, dass die Wohnung unbewohnt war. Genau genommen war sie ja nie so wirklich bewohnt. Langsam gehe ich durch die Räume und sehe mich um. Hier muss einiges geschehen. Im Schlafzimmer steht ein wunderschönes Bett mit geschwungenem, eisernem Bettgestell, aber ich habe noch nicht einmal eine passende Tagesdecke dafür.
An den Fenstern hängen nur praktische Jalousien, die den Raum zwar wunderbar abdunkeln um zu schlafen, aber keinerlei Gemütlichkeit bringen. Ein kleiner weißer Nachttisch mit dazu passendem Kleiderschrank ergänzen den Rest der Einrichtung. Im Wohnzimmer sieht es nicht besser aus. Kein Bild ziert meine Wand, das fliederfarbene Sofa ist der einzige Farbklecks zwischen einem dunklen Sideboard an der einen Wand und dem Fernsehschrank gegenüber. Nicht einmal einen Esstisch habe ich hier stehen, obwohl der Platz dafür durchaus da wäre. Zum Essen muss ich in meiner kleinen Küche sitzen, da gibt es einen Tisch für vier Personen. Ansonsten ist es auch hier bekümmernd karg. In den nächsten Tagen oder Wochen werde ich aus dieser Wohnung ein Heim machen, nehme ich mir fest vor. Morgen mache ich mir einen Plan und gehe einkaufen. Aber im Moment bin ich so müde, ich will nur noch schlafen. Ich springe unter die Dusche, um den Schmutz der langen Reise abzuwaschen und ziehe mir einen Schlafanzug an. Nachdem ich alle Fenster wieder fest verschlossen habe, falle ich in mein Bett und schlafe die nächsten zwölf Stunden durch.
Als ich erwache, ist es fünf Uhr morgens. Okay, ich bin wohl durch die Zeitverschiebung etwas durcheinander. In Tokio ist es jetzt bereits zwölf Uhr mittags. Mittag! Der Gedanke erinnert meinen Magen daran, dass ich seit Ewigkeiten nichts gegessen habe und er knurrt vernehmlich. Das Essen im Flugzeug war eine Katastrophe, bestehend aus grauen, matschigen Nudeln und einer angeblichen Tomatensoße mit Hühnerfleisch, was aber absolut ungenießbar war. Somit habe ich mich die letzten zwei Tage nur von Keksen und Schokoriegeln aus den Flughafenkiosken ernährt. Nicht unbedingt gesund, wenn man wie ich auf seine Figur achten muss. Ich bin zwar nicht wirklich dick, aber doch an gewissen Stellen deutlich gerundet. Meine beste Freundin Annie behauptet, ich hätte eine Figur, wie ein Pin-up-Girl der fünfziger Jahre und die Männer würden auf solche Rundungen stehen, aber ich glaube, sie will nur nett sein. Ich kann jedenfalls nicht feststellen, dass mir die Männer die Bude einrennen. Im Gegenteil. Meine letzte und einzige Beziehung ist schon ewig her und war nicht gerade von Erfolg gekrönt. Na gut, ich hatte jetzt auch nicht sonderlich viel Zeit und Lust, mich um Männerbekanntschaften zu kümmern, aber ab sofort wird sich das ändern. Ich werde mein Leben neu in die Hand nehmen, beschließe ich, als ich mich schnell unter die Dusche stelle und danach eine weite Hose und einen ebenso weiten Pulli überziehe. Mir ist ein bisschen flau im Magen vor Hunger und ich weiß, dass ich absolut nichts im Haus habe. Also muss ich erst einmal einkaufen, bevor mein neues Leben beginnen kann.
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