Ich erzähle Chris, wie liebevoll Colin sich die letzten Wochen um Lilly gekümmert hat und dass ich nicht glaube, dass er geht, nur weil Lilly nicht von seinem Blut ist. Er liebt die Kleine abgöttisch, sie hat ihn völlig verzaubert, das sehe ich jedes Mal wieder. Zumindest durch Lilly werden wir immer verbunden sein. Egal, was der Test sagt.
Meine Eltern gesellen sich wieder zu uns und wir wechseln das Thema. Aber ich bin nicht mehr so richtig bei der Sache, Chris‘ Worte zwingen mich zum Nachdenken. Den Rest des Abends bin ich mit meinen Gedanken beschäftigt und nachts finde ich keinen Schlaf.
Kaum sind wir am nächsten Tag wieder zu Hause, fängt Lilly an zu drängeln, dass sie Colin sehen will. Sie hat ihn in der einen Woche anscheinend sehr vermisst. Sie fragt mich den ganzen Nachmittag über so oft, dass ich irgendwann nachgebe und mein Handy hole, um Colin eine SMS zu schreiben. Huch, 22 Anrufe in Abwesenheit. Alle von Colin. Hm, mein Bruder hatte wohl recht, er hat sich Sorgen gemacht.
Ein paar SMS sind auch im Postfach. Er fragt wo ich bin, warum ich nicht zu Hause bin und schreibt, dass er Lilly vermisst und sich Sorgen macht, wo wir stecken.
Okay, nachdem er Lilly in den letzten Wochen so oft getroffen hat, hätte ich ihm vielleicht sagen sollen, dass ich in den Urlaub fahre.
Ich schreibe ihm: „Bin wieder zu Hause. Hast du Lust, Lilly zu treffen?“
Fast sofort nach dem Abschicken, klingelt mein Handy. Colin ruft an. Ich zögere erst und gehe dann ran.
„Hey, du bist wieder da“, seine Stimme klingt ganz weich und auch ein bisschen besorgt.
„Ja, ich war bei meinen Eltern. Lilly würde dich gerne sehen. Hast du Lust?“
Er lacht auf.
„Natürlich habe ich Lust! Ich habe den kleinen Spatz seit fast anderthalb Wochen nicht gesehen. Ich habe sie vermisst.“
Ob ihm bewusst ist, dass er denselben Spitznamen für sie benutzt, wie ich? Wir verabreden uns für den nächsten Nachmittag und Colin scheint sich wirklich zu freuen. Ich dagegen bin jetzt schon nervös, bei der Vorstellung ihn morgen wiederzusehen.
Am Sonntag ist Lilly total aufgeregt und will sogar einen Kuchen für Colin backen. Also verbringen wir den Vormittag in der Küche.
Nach ihrem Mittagsschlaf kommt Colin. Lilly springt ihm wie immer sofort in die Arme und lässt sich durch die Luft wirbeln. Dann erzählt sie ihm, was sie alles bei Oma und Opa erlebt hat und dass es jetzt einen Kuchen gibt, den sie alleine gebacken hat. Na ja, was man mit drei Jahren so alleine nennt. Er kommt zum Glück nicht dazu, mich großartig zu begrüßen und mustert mich nur lächelnd, bevor Lilly ihn in den Garten zieht.
Ich habe unseren Gartentisch unter einem großen Baum auf dem Rasen aufgestellt. Langsam folge ich den beiden mit der Kaffeekanne in der Hand. Während wir den Kuchen essen, erzählt Lilly immer noch, sodass wir beide nicht wirklich zu Wort kommen. Ich habe das Gefühl, der Kuchen schmeckt wie Sägespäne und bringe kaum etwas runter, so nervös bin ich. Ich habe Angst, dass er mich auf unseren letzten Streit anspricht, aber er hat nur Augen für Lilly und wirft mir nur ab und zu einen intensiven Blick zu, bei dem ich jedes Mal wegsehen muss, weil mir die Röte ins Gesicht schießt.
Nachdem meine Tochter satt ist, rennt sie zur Sandkiste, um ihren Puppen auch einen Kuchen zu backen. Ich vermeide es, Colin anzusehen und stehe auf, um den Tisch abzudecken.
Da legt er seine Hand auf meine und ich blicke automatisch hoch.
„Du siehst gut aus, Annie. Erholt.“
Er lächelt freundlich, aber ich glaube einen Funken Unsicherheit in seinen Augen zu sehen.
„Äh … Danke“, stottere ich und will meine Hand unter seiner wegziehen. Er umschließt meine Finger und lässt mich nicht los. Seufzend lasse ich mich wieder auf den Stuhl fallen.
„Bitte Annie, wir müssen reden. Für Lilly.“
Okay, damit hat er mich. Für Lilly mache ich alles. Seufzend sehe ich auf die Tischplatte vor mir.
„Ich weiß“, flüstere ich.
„Aber nicht heute, nicht vor Lilly. Ich erkläre dir alles, aber lass mir ein bisschen Zeit.“
Noch einmal drückt er kurz meine Hand und lässt mich dann los, weil Lilly auf ihn zu rennt und auf seinen Schoß krabbelt. Über ihren Kopf hinweg sieht er zu mir herüber und nickt.
„Ich warte.“
Am nächsten Morgen bleibe ich mit meinem üblichen Kaffee vom Coffeeshop an der Hafenmauer stehen und betrachte das Meer, während ich mit mir hadere, was ich machen soll. Soll ich wirklich das Gespräch mit Colin suchen oder lieber doch nicht. Ich habe es ihm versprochen und er hat Recht, für Lilly müssen wir alles Ungesagte klären. Aber heute? Oder warte ich noch? Ich habe Angst davor, ihm alles zu erzählen, ich will sein Mitleid nicht, könnte es nicht ertragen, wenn er mich dadurch anders behandelt.
Es ist gerade erst halb neun, aber ich beschließe, das Schicksal entscheiden zu lassen und schlage den Weg zu seinem Penthouse ein. Wenn er schon zur Arbeit gefahren ist oder keine Zeit hat, warte ich ab. Sollte er da sein, wenn ich klingele, werde ich mit ihm reden, beschließe ich.
Vor der Tür bleibe ich noch einige Minuten stehen und traue mich nicht, auf den Knopf zu drücken. Okay, Annie. Augen zu und durch. Ich mache mir selber Mut und klingele. Nach ein paar Sekunden wird der Summer gedrückt und ich trete ein. Während ich mit dem Fahrstuhl hoch fahre, verlässt mich schon wieder der Mut, aber jetzt kann ich nicht mehr umkehren. Die Fahrstuhltür öffnet sich und vor mir steht Colin. Ich kann mich nicht rühren, ich starre ihn nur wie versteinert an.
Als die Türen sich wieder schließen, springt er vor und zieht mich am Arm aus dem Fahrstuhl. Die Berührung durchfährt mich wie ein Blitz und mein Körper reagiert sofort auf seine Nähe und seinen Geruch. Er scheint gerade aus der Dusche zu kommen. Seine schwarzen Haare kringeln sich feucht über den Ohren, er hat ein Handtuch um den Hals geschlungen, sein muskulöser Oberkörper ist nackt und seine langen Beine stecken in einer Sporthose. Ich schlucke hart, als ich ihn betrachte, mein Mund ist wie ausgedörrt.
„Annie …“ reißt er mich aus meiner Trance.
„Komm rein.“
Er hält mir die Tür auf und ich trete ein. Im Flur bleibe ich unschlüssig stehen, während er die Wohnungstür schließt. Noch immer habe ich kein Wort gesagt, fällt mir auf.
„Können wir reden?“, krächze ich heiser.
Irgendwie versagt mir gerade die Stimme.
„Natürlich“, erwidert er leise, legt mir sanft eine Hand auf den Rücken und führt mich ins Wohnzimmer.
Ich sinke auf die Couch und starre auf meine im Schoß vergrabenen Hände. Colin fragt, ob ich etwas trinken möchte und ich bitte um Wasser. Vielleicht hilft das gegen meine trockene Kehle. Er holt das Wasser und setzt sich neben mich ans andere Ende der Couch. Allmählich fallen mir meine Manieren wieder ein.
„Entschuldige, dass ich dich so überfalle. Du hast wahrscheinlich gar keine Zeit. Ich hätte anrufen sollen.“
Ich will aufstehen, aber er hält mich zurück und zieht mich zurück auf die Couch.
„Annie, ganz ruhig. Ich habe Zeit. Was ist los?“
„Ich … äh …also …“
Ich knete meine Finger, so nervös bin ich.
„Annie, warum bist du hier? Möchtest du mir erzählen, was damals passiert ist?“
„Willst du es denn wissen?“ Meine Stimme ist nur noch ein Flüstern. Ein Wunder, dass er mich überhaupt versteht.
„Natürlich will ich es wissen.“
Fast klingt er empört, dass ich so etwas überhaupt frage.
Als ich nicht weiterspreche, rückt er ein Stück näher und legt seine Hand auf meine Finger, die ich immer noch knete und drückt sie aufmunternd.
„Was ist damals passiert, Annie?“
„Ich wollte das nicht. Es tut mir leid.“
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