Ich antworte nicht darauf, will nicht hören, was er zu sagen hat. Jetzt nicht, ich brauche erst einmal etwas Abstand. Ich überlege, ob ich mit Lilly nicht einfach ein paar Tage wegfahre. Warum nicht? Es ist immer noch Sommer, das Wetter ist schön und ich muss im Moment nicht arbeiten. Bevor ich es mir anders überlegen kann, greife ich zum Telefon.
„Hey Mom! Ich hab mal wieder Sehnsucht nach der Großstadt. Habt ihr in der nächsten Woche Zeit? Kann ich mit Lilly kommen?“
Auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, fröhlich zu klingen, meine Mutter hat den siebten Sinn einer jeden Mutter.
„Was ist passiert Annie?“
Da hilft nur leugnen, ich kann nicht darüber reden.
„Gar nichts“, sage ich betont lachend.
„Ich habe mein Buch fertig und wollte mir ein paar Tage Urlaub gönnen. Außerdem war ich schon ewig nicht mehr bei euch.“
Sie scheint nicht ganz überzeugt, aber ich bin wie immer herzlich willkommen.
Okay, es sieht ein bisschen aus wie Flucht, aber das ist es nicht. Ich habe ja schon vor Wochen überlegt, mit Lilly ein paar Tage loszufahren, wenn mein Buch fertig ist. Und genau das mache ich jetzt. Zumindest rede ich es mir ein.
Als ich sie aus dem Kindergarten abhole, melde ich sie für die nächste Woche ab. Lilly verabschiedet sich ausgiebig von Megan, ihrer Erzieherin, und ihren Freundinnen und ist begeistert, als sie hört, wo es jetzt hingeht. Ich schnappe mir ihren Rucksack und sie rennt aufgeregt zum Auto. Nachdem ich sie angeschnallt habe, steht Colin plötzlich neben meinem Wagen. Lilly kann ihn von ihrem Kindersitz aus zum Glück nicht sehen, weil er hinter ihr steht. Er fasst mich nicht an, aber baut sich vor mir auf, sodass ich nicht an ihm vorbeikomme. Das Auto steht mit der Beifahrerseite und der Front an einer Wand, Colin steht am Heck. Ich sitze in der Falle.
„Lass mich vorbei, Colin.“
„Bitte Annie, ich will nur mit dir reden.“
Er hebt die Hände, als wollte er zeigen, dass er nichts Böses im Sinn hat.
„Nein, Colin, lass gut sein. Ich habe mir genug Beleidigungen von dir angehört.“ Auf einmal bin ich nur noch müde. Ich kann und will nicht mit ihm reden, keine Entschuldigungen hören, keine Erklärungen abgeben. Aber das scheint ihn nicht zu interessieren oder er ignoriert es einfach, denn er spricht weiter.
„Annie, bitte. Es tut mir wirklich leid. Ich war so verletzt und habe total überreagiert. Dein Bruder hatte recht. Ich hätte dir zuhören sollen, anstatt dich mit Anschuldigungen zu überhäufen.“
„Tja, dazu ist es jetzt zu spät und jetzt lass mich endlich durch!“
In diesem Moment höre ich eine andere Kindergartenmutter.
„Ist alles okay, Annie? Brauchst du Hilfe?“
Colin ist kurz abgelenkt, als er sich zu der anderen Frau umdreht und ich schlüpfe an ihm vorbei.
„Danke Tessa, alles okay“, rufe ich ihr zu und steige schnell in mein Auto. Colin geht nur beiseite und schaut mir hinterher, als ich aus der Parklücke und vom Kindergarten wegfahre.
Lilly plappert aufgeregt die ganze Fahrt über durch und ich lasse mich gern von ihrer Begeisterung anstecken und verdränge die Begegnung mit Colin eben in die hinterste Ecke meines Gehirns.
Eine Woche Urlaub bei ihren Großeltern und diesmal sogar mit Mummy, Lilly freut sich so sehr. Das letzte Mal, dass sie ihre geliebte Granny gesehen hat, ist schon wieder acht Wochen her. Wir haben schon Mitte August, dieser ereignisreiche Sommer ist fast vorbei und ich glaube, nach so viel Aufregung habe ich mir einen Urlaub verdient.
Bei meiner Mutter lassen wir uns so richtig verwöhnen. Sie kocht unsere Lieblingsgerichte, geht mit Lilly in den Zoo und ins Schwimmbad, während ich einfach im Garten liege und nichts mache oder mit meinem Vater beisammen sitze und von meinem neuen Buch erzähle.
Mein Vater ist ein großer Fan von meinen Krimis und verschenkt sie auch bei jeder Gelegenheit an Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen. Es freut mich immer wieder, zu sehen, wie stolz mein Vater auf mich ist.
Meine Eltern fanden es damals vielleicht nicht so gut, dass ich weggezogen bin, aber den Schritt zur freien Autorin haben sie immer sehr begrüßt. Sie waren sowieso der Meinung, ich würde mein Talent in dieser Pressestelle beim Pharmakonzern nur vergeuden.
Mit meiner Mutter mache ich mir einen Frauentag mit ausgiebigem Shoppen und einem Besuch in einem Spa, wo wir uns mit Massagen und Masken verschönern lassen, während mein Vater auf Lilly aufpasst und versucht, ihr das Angeln beizubringen.
So allmählich bekomme ich auch meine abgenommenen Kilo wieder drauf. Kein Wunder, bei der Pflege und Verpflegung meiner Mutter.
So vergehen die ersten Tage und meine Eltern schneiden das Thema Colin nicht an. Wahrscheinlich haben sie von Chris schon von meinem Absturz und dem Zwischenfall beim Arzt erfahren. Ich bin noch lange nicht über Colin hinweg, werde es vielleicht auch niemals sein, aber noch hält meine Wut auf ihn die Traurigkeit in Grenzen. Ich bin so sauer über seine Beleidigungen und darüber, wie er mich in die Defensive gedrängt hat, bis ich ihm die Wahrheit buchstäblich an den Kopf geknallt habe. Und ich bin auch auf mich selbst sauer, dass ich es ihm überhaupt gesagt habe. Ich wollte es ihm nicht erzählen, nach allem, was er über mich gesagt hat und wenn, dann zumindest nicht so. Ich verdränge die Gedanken an Colin die ganze Woche über und bemühe mich nur, meinen Spaß zu haben. Mein Handy habe ich mit Absicht gar nicht erst mitgenommen, weil ich nicht in Versuchung kommen wollte, ihn anzurufen oder seine SMS zu lesen. Davon hat er mir mit Sicherheit welche geschrieben.
Am Freitagabend, als mein Urlaub fast zu Ende ist, kommt Chris vorbei. Wir werfen den Grill an und genießen unser Familientreffen. Es ist schon lange her, dass wir einmal alle beisammen waren. Es ist mein letzter Abend. Morgen nach dem Frühstück fahren Lilly und ich wieder nach Hause. So kann sie sich Sonntag noch ein bisschen von der Fahrt erholen, bevor am Montag der Kindergarten wieder losgeht. Meine Eltern übernehmen nach dem Essen gemeinsam Lillys Abendritual von baden, Geschichte lesen und ins Bett bringen, während ich mit Chris in der lauen Sommernacht im Garten sitzen bleibe. Mein Bruder schweigt lange, als die drei ins Haus gegangen sind, was ungewöhnlich ist für ihn. Er starrt in den Garten und sagt auf einmal: „Colin hat mich angerufen.“
Ich bin völlig perplex. Bitte was?
Er sieht mich an und spricht weiter: „Ich glaube, ich habe ihn falsch eingeschätzt. Er hat mir von eurem Streit erzählt und was du ihm da an den Kopf geworfen hast, bevor du weggelaufen bist. Ich weiß, es ist allein deine Sache, aber ich finde, du solltest mit ihm reden. Er macht sich wirklich Sorgen um dich.“
„Woher hatte er deine Nummer?“
Chris zieht nur eine Augenbraue hoch und sieht mich an. Ach ja, Securityfirma … Ich vergaß …
„Was hat er dir erzählt?“
Wenn Colin ausgerechnet Chris anruft, nach dem, was vor der Arztpraxis passiert ist, scheint an den Worten meines Bruders etwas dran zu sein.
„Ich glaube, er hat nichts ausgelassen. Er hat mir sogar erzählt, wie er dich letzte Woche am Strand angegriffen hat. Also verbal. Oder hat er dir wehgetan?“, fragt Chris alarmiert.
Als ich nur den Kopf schüttele, entspannt er sich wieder und spricht weiter.
„Es tut ihm wirklich leid. Er klang ziemlich fertig und hat mich angerufen, weil er dich nicht erreichen konnte und du auch nicht zu Hause warst.“
„Ich hab mein Handy nicht mitgenommen“, werfe ich ein.
Christ nickt nur wissend.
„Rede mit ihm. Ich glaube, er hat mehr verdient, als die reine Aussage, dass du vergewaltigt wurdest. Vor allem, wenn er tatsächlich Lillys Vater sein sollte. Dann seid ihr beide gemeinsam Eltern und werdet immer miteinander zu tun haben.“
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