Ich frage mich nur, wie ich damit klarkommen würde, ihn regelmäßig zu sehen, denn das würde ich ja zwangsläufig auch. Ich beschließe, es für Lilly zu schaffen. Ich muss einfach meine eigenen Gefühle hinter Lillys stellen. Mit einem Kloß im Hals antworte ich nur: „Lilly würde sich sicher freuen. Du darfst sie jederzeit besuchen. Ruf mich einfach an.“
„Mach ich.“
Damit dreht er sich um und geht zu Lilly. Die beiden essen ihr Eis und schaukeln danach noch ausgiebig, während ich wieder auf die Bank gehe und sie traurig beobachte. Wie gern würde ich jetzt mit ihnen herumtoben. Aber ich bin nur ein Zaungast. Und so wird es jetzt wohl häufiger sein. Auf einmal muss ich meine Tochter teilen. Zeit sich daran zu gewöhnen.
Colin hält Wort und ruft mich tatsächlich an. Alle paar Tage treffen wir uns, damit er mit Lilly spielen kann. Er kümmert sich rührend um sie und macht alles mit. Selbst eine Verkleidung als Prinzessin ist ihm nicht zu peinlich. Drei Wochen sind seit dem Nachmittag auf dem Spielplatz vergangen. Am Anfang haben wir uns immer dort, am Strand oder an anderen öffentlichen Orten getroffen, aber irgendwann hat Lilly einfach keine Ruhe mehr gegeben und wollte unbedingt in ihrem eigenen Zimmer und unserem Garten mit Colin spielen. Seitdem kommt Colin zu uns. Während die beiden spielen, arbeite ich meistens, damit ich nicht wie das fünfte Rad am Wagen danebensitze.
Lilly will mich immer überreden mitzuspielen, aber ich kann nicht, und ich glaube, es wäre Colin auch nicht Recht. Mein Buch ist fertig korrigiert und liegt bei meiner Verlegerin. Jetzt habe ich Zeit, mir eine neue Geschichte zu überlegen. Ich sitze vor meinem Computer und höre die beiden im Garten lachen. Es tut mir immer noch weh, Colin zu sehen und nicht berühren zu dürfen. Ich sehne mich danach, in seinen starken Armen zu liegen und einfach festgehalten zu werden. Die Testergebnisse müssten jetzt bald kommen. Ich habe Angst davor, was dabei herauskommt.
Heute Abend soll Colin das erste Mal seit meiner Krankheit mit uns Abendbrot essen. Ich habe einen Auflauf vorbereitet, den ich jetzt in den Ofen schiebe. Ich decke den Tisch und rufe die beiden zum Essen herein. Fast wie eine richtige Familie, denke ich wieder einmal, als Colin mit Lilly auf den Schultern in die Küche kommt. Kurz schnürt sich mir der Hals zu und ich schlucke hart und verbanne meine sowieso unerfüllbaren Sehnsüchte.
Beim Essen versucht Colin sich normal mit mir zu unterhalten. Er ist nicht mehr so wortkarg wie noch vor ein paar Wochen, aber immer noch reserviert und eher kühl. Trotz allem wollen wir vor Lilly den Eindruck erwecken, uns gut zu verstehen.
Plötzlich fragt Lilly: „Bist du jetzt mein Daddy, Colin?“
Wir zucken beide zusammen und Lilly spricht weiter: „Im Kindergarten haben alle Kinder einen Daddy, auch wenn er nicht bei denen wohnt.“
Tja, was soll man einer Dreijährigen darauf antworten? Ich bin wie vernagelt und habe keine Antwort auf ihre Frage, deshalb wechsele ich schnell das Thema und hole den Nachtisch. Der Schokoladenpudding lenkt Lilly von ihrer Frage ab. Die Aufmerksamkeitsspanne bei Dreijährigen ist zum Glück noch sehr gering.
Nach dem Essen muss Colin sie natürlich baden und ins Bett bringen. Sobald er da ist, bin ich echt abgeschrieben. Aber gut, sie hat nicht so richtig eine männliche Bezugsperson. Im Kindergarten arbeiten nur Frauen und mein Bruder wohnt zu weit weg. Sie genießt es einfach und das soll sie auch.
Ich setze mich mit einem Glas Wein auf die Veranda und warte auf Colin. Als er herauskommt, setzt er sich schweigend zu mir. Ich hole noch ein Glas und schenke ihm ein. Colin starrt auf das Meer, während er gedankenverloren einen Schluck trinkt. Nach einer gefühlten Ewigkeit bricht er endlich das Schweigen.
„Lilly schläft. Wollen wir ein paar Schritte am Strand laufen?“
Huch? So hat er ja seit Wochen nicht mit mir geredet. Als wären wir einfach nur Freunde, die sich einen netten Abend machen wollen.
Wir gehen zu dem Abhang, der zum Strand hinunter führt und unsere Schultern berühren sich kurz. Sofort tritt Colin einen Schritt zur Seite. Okay, wohl doch keine Freunde. Was machen wir dann hier? Ich warte gespannt, dass Colin etwas sagt. Ich bin sicher, er möchte etwas besprechen, aber erst einmal schweigt er nur.
Nachdem wir ein paar Minuten am Strand entlanggegangen sind, fängt er auf einmal an zu sprechen: „Ich hoffe sehr, dass Lilly meine Tochter ist.“
Er klingt traurig und sieht mich bei diesen Worten nicht an.
„Du wärst ein großartiger Vater“, antworte ich leise.
Ich höre, wie Colin scharf Luft holt und seine Stimmung in Sekundenbruchteilen umschlägt. Sein Körper spannt sich neben mir an, seine Hände ballen sich zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortreten. Leise flucht er vor sich hin, bevor er sich zu mir umdreht und mich aus schwarzen Augen wütend anfunkelt.
„Und der Andere? Oder soll ich sagen die Anderen? Wäre der auch ein toller Vater für Lilly? Hat er auch einen Test gemacht und wartet und hofft und bangt seit Wochen auf das Ergebnis?“
Ich keuche auf und stolpere ein paar Schritte zurück. Dass er mich so angreift hatte ich nicht erwartet.
„Es gibt keinen Anderen. Es gab nie einen Anderen. Nicht so, wie du denkst.“
Er packt mich an den Schultern und hält mich fest, hasserfüllt starrt er mich an.
„Warum zum Teufel hast du das dann behauptet? Warum erzählst du mir, du wüsstest nicht, ob ich ihr Vater bin, wenn es angeblich doch keinen Anderen gab?“
Auf einmal werde ich auch wütend, versuche mich von ihm loszumachen und schlage auf seine Brust ein, aber er rührt sich keinen Millimeter. Stattdessen beugt er sich vor und flüstert mir ins Ohr:
„Wie kann man nur so verlogen sein?“
Da setzt alles in mir aus, ich schreie auf. Mit aller Kraft trete und schlage ich nach ihm. Meine Augen füllen sich mit Tränen, so wütend bin ich, aber ich schlucke sie hinunter. Ich stoße immer wieder meine Fäuste vor seine Brust, um ihn loszuwerden, während ich ihn anschreie: „Ich wurde vergewaltigt, du arrogantes, selbstherrliches Arschloch!“
Sofort lässt er mich los und zuckt zurück, als hätten ihn meine Worte mehr getroffen, als meine Schläge. Ich taumele kurz, dann drehe ich mich um und renne über den Strand zurück nach Hause. In meine Sicherheit.
Wieder im Haus verschließe ich alle Türen und gehe ins Schlafzimmer. Noch immer rollen mir Tränen der Wut übers Gesicht und ich kann nicht aufhören zu weinen. So viel, wie in den letzten Wochen, habe ich in den ganzen letzten Jahren nicht geheult. So allmählich wird das eine ganz schlechte Angewohnheit von mir. Das muss sich schleunigst wieder ändern. Allerdings hat mich auch seit Jahren nichts und niemand mehr emotional so sehr getroffen, wie Colin. Ich krieche in mein Bett und lasse den Tränen freien Lauf, bis sie von selbst versiegen. Zwischen meinen Schluchzern, höre ich es unten an der Tür klopfen. Dann klingelt mein Handy neben mir auf dem Nachttisch. Und noch einmal. Nach dem dritten Anruf mache ich es aus. Ich will jetzt nicht mit Colin reden. Ich schlafe unruhig ein und werde wieder von Albträumen geplagt. In meinem Traum erlebe ich die Nacht vor vier Jahren noch einmal.
Als ich am nächsten Morgen Lilly weggebracht habe und den Coffeeshop ansteuere, steht Colin davor. Na toll. Ich mache auf dem Absatz kehrt und steige wieder in meinen Wagen. Also kein Caramellatte heute. Mir fällt ein, dass mein Handy noch aus ist und mache es schnell an. Nicht, dass wieder etwas im Kindergarten los ist und ich das Telefon nicht höre. Einmal reicht!
Diverse Anrufe von Colin und zwei SMS. Eine von gestern Abend und eine von gerade eben.
Gestern kam: „Es tut mir leid! Bitte rede mit mir!“
Und eben fast dasselbe: „Bitte, gib mir die Chance, mich zu entschuldigen. Lauf nicht vor mir weg!“
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