Begleitet von einem leise klirrenden Geräusch fiel ein Stück Wand zu Boden wie ein Vorhang aus Eis. Er zerbrach dabei nicht, sondern zerlegte sich einfach in mehrere Bestandteile, die alle gleich lang waren. Die wie verglasten Lamellen stapelten sich gleich ordentlich am Boden. Für ein paar Augenblicke vergaß der Baummensch die Frau, in deren Begleitung er sich befand. Behutsam schob er einen ersten Fuß auf den ebenfalls wie von Glas durchwirkten Boden. In dem Glas waren matt leuchtende Luftblasen eingeschlossen, die sich überraschenderweise aber leise hin und her bewegten, als die zwei Besucher, die alte Frau war dem Bäumling nämlich einfach gefolgt, über den Boden tappten. Wie sie staunten, wie prachtvoll alles anzusehen war!
Als bewegte sich ein Windspiel, schellten von überallher kleine Glöckchen. Allerorts schienen sich die aus Glas gewirkten Wände und Böden in Schwingung zu befinden. Es war, als seien sie nicht in etwas Festem verankert, sondern als hingen sie über einem luftleeren Raum. Der Bäumling vermutete auch gleich, dass sich unter dem Glaskäfig das Eigentliche befand, das er suchte, zu dem er strebte.
Der Boden war wohl wie die Membran von etwas, das im Verborgenen ruhte und auf den ersten Blick nicht gleich entdeckt werden konnte.
Erst etwas ratlos darüber, was jetzt zu unternehmen sei, blickte er zunächst zum Eingang, dem Durchbruch. Wie überrascht, aber auch erfreut er war, als er dort einen Wurzelarm der Mutter Eiche entdeckte, der sich über die Schwelle der Öffnung legte! Die Mutter trank Wasser von dem gläsernen Meer, nachdem sie ihnen über die weite Strecke gefolgt war!
Dort, wo der Wurzelarm in das Glasmeer eintauchte, war er schon ganz weiß geworden, wodurch er unterschiedslos mit allem anderen verschmolz.
Jetzt endlich verstand der Baummensch, den seine Instinkte hierher geleitet hatten: Der Teich war in Wirklichkeit das Herz des Waldes, zu dem sämtliche Bäume immer mal wieder Fühlung aufnahmen! Und richtig: Wenn er genau hinsah, gegen das Grelle des Ortes die Augen mit seinen Händen beschirmte, dann erblickte er von überallher Ausläufer von Baumwurzeln, welche die Wände des Raumes an unzähligen Stellen durchbrachen. Gläsern, wie auch sie waren an ihren Spitzen, fielen sie kaum auf. Es war aber deutlich, dass jene Nähe für sie von Vorteil war, fast schmatzten die Wurzeln vor lauter Glück, weil ihnen das Wasser so wohl schmeckte!
Der Baummann, der sich in den heiligen Hallen des Waldes befand, stellte sich ganz aufrecht hin, spannte die Brust, fühlte das eigene Holzherz darin schlagen und gedachte in Liebe seiner Eltern. War er überhaupt würdig, hier zu stehen?
»Vater! Mutter!«, seufzte er, indem er das Haupt neigte. Sobald er das gesagt hatte, begann sich das Eismeer von seiner Mitte her zu verflüssigen. Es tat sich ein Trichter auf, der mit blauen Rändern in die Tiefe wies. Das Wasser strudelte, einer Stromschnelle nicht unähnlich, nach unten. An den Rändern des Trichters schäumte es weißlich auf.
Mit vorsichtigen Schritten, da sie ja nicht wussten, ob das Eismeer sie tragen würde, näherten sich die alte Frau und der junge Baummensch dem Abgrund, in den das Wasser gespült wurde. Was sie dort unten erblickten, verschlug ihnen zunächst die Sprache. Ein gigantisches Herz atmete am Grund der Senke, die sich aufgetan hatte unter dem Eismeer! Es atmete, litt aber offensichtlich Schmerzen, seine Kammern sahen nicht mehr frisch oder gut durchblutet aus! Der Bäumling, den das alles sehr mitnahm, streckte Anteil nehmend und wie liebkosend die Hände gegen das Herz aus.
Jenes fühlte sein Ansinnen und fing an, sich aufzupumpen und aufzublähen. Immer größer wurde es, bis es sich schließlich so weit aufgewölbt hatte, dass es mit seiner Membran die Finger des Bäumlings berührte. Plötzlich liefen Lichtimpulse vom Herzen zum Sohn des Waldes, es war wie ein Gewitter, das sich zwischen den beiden entlud.
Der Bäumling erhielt eine Vision, befand sich, gebeugt über den Rand des Wasserfalls, in einer Art Trancezustand!
Was die alte Frau nicht wissen konnte, war, dass sich gerade, vom Herzen ausgehend, das kollektive Gedächtnis des Waldes auf den Baummann übertrug.
In ein dunkles Bedauern hinein verwandelte sich dessen ansonsten so unbeschwertes Gemüt: Fast überall in diesem Bezirk ging es dem Wald schlecht!
Die bunte Vielfalt des gesamten Planeten starb! Wie die Flora, das Ornamentale allen Lebens und zugleich dessen Nährboden, großzügig ihre Pracht hinausduftete in den Schoß der Menschheit! Wie um sich gegen dieses neu erworbene Wissen zur Wehr zu setzen, schüttelte der Baummensch den Kopf. Seine Haare zogen knisternd mit. Wie nur hatte es so weit kommen können? Warum nur waren die Menschen so sorglos?
Warum taten sie seinen Eltern so weh? Fast empfand der Sohn des Waldes so etwas wie Furcht. Aber nein, das durfte nicht sein! Konnte man die Dinge nicht noch ändern? Behutsam liebkoste er das seinen Fingern angeschmiegte, riesige Herz, beruhigte es und sprach ihm seine noch bestehende Zuversicht aus. Noch lange verständigten sich beide in Worten und Gedanken. Irgendwann aber, unmerkbar erst, schloss sich die Eisdecke wieder über dem Herzen, das Meer floss zurück und erstarrte. Das Tosen des Wasserfalls hatte aufgehört.
Das Herz konnte also in aller Zurückgezogenheit unter dem gläsernen Meer fortdauern, jetzt hoffnungsfroh, da es den Sohn gesehen hatte. Der Bäumling nahm Abschied, für beide war die Begegnung viel zu kurz gewesen, aber es galt, sich zu schicken.
Die alte Frau, welche in den vergangenen Minuten beinahe unbeteiligt gewirkt hatte an allem und der soeben vielerlei Überlegungen im Kopf herumgingen, sie erahnte jetzt, dass jedes zusammenhängende Waldgebiet ein solches Herz besaß, das lachte oder weinte, je nachdem, wie es ihm ging. Für den Augenblick waren es erdenweit harzduftige Töne, die hinaus geweint wurden und sich an dem Schmerz festmachten, bald sterben zu müssen!
Sie hob den Kopf, denn sie wunderte sich, dass etwas über ihr plötzlich so grell leuchtete. Und tatsächlich: Die Kuppel über ihren Köpfen, das Glas- oder Eisdach, war aufgegangen wie ein Blumenkelch im warmen Wind. Die Sonne schien breit herein und das Licht blendete dermaßen, dass es sie beinah blind machte. Nun war der direkte Weg nach oben also frei! Der Baummensch an ihrer Seite hatte die Öffnung ebenfalls bemerkt. Er sah liebevoll zu der alten Frau hin, die es schon immer geahnt hatte, dass der Wald lebte und dass er verstand, was mit ihm geschah.
»Nur zu!«, sprach er zu ihr.
Und damit meinte er, dass sie nun auf die Lichttreppe steigen solle, die sich vor ihnen aufgetan hatte. Er würde sie schon stützen, sobald ihr schwindlig werden würde!
Leise Melodien begleiteten sie, als sie aufstiegen, denn der Wind schliff an den Kanten der Stufen, die begannen zu singen. Immer höher stiegen sie die gläserne Treppe hinauf, die auf Luft gebaut war und aussah wie aus Quarz gebacken. Schließlich aber wurden die Treppenstufen immer schmaler, sie schmolzen hinweg, je höher sie kamen.
Auf der obersten angelangt, war es nur noch ein kleiner Sprung bis auf den Gipfel der Bergkuppe. Der alten Frau war kurz schwindlig vom Aufstieg, aber als sie in die sich wie ein grüner Teppich ausbreitende Landschaft blickte, wurde ihr allmählich wieder besser. Der Bäumling, der hinter ihr stand und ihr einen langen Schatten über die rechte Schulter legte, deutete mit seinem ausgestreckten Arm auf einen in der Ferne besonders üppig wachsenden Baum: Es war die Mutter Eiche, wieder in Nebelstreifen gehüllt wie in ein fließendes Gewand!
Ihr Kronendach hing schon fast in den Wolken, die Sonne überblendete all dies und malte einen gelben Saum und gelbe Bänder.
Wie schön des Bäumlings Heimat war!
Sein Glück wurde richtiggehend fühlbar für die alte Frau: Wie ein Kind tastete er nach einer ihrer Hände und drückte sie fest.
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