»Ich möchte nicht unhöflich sein, Herr Schrøder, aber ich habe schrecklich viel zu tun.«
»Das verstehe ich gut.«
»Ein generelles Interview, sagten Sie, oder geht es um die irrige Annahme, wir hätten einen Mörder in unserem Haus?«
»Weder noch ...« William legte seinen Notizblock auf den niedrigen Tisch und zückte seinen Kugelschreiber.
»Die Polizei war schon hier, zusammen mit einer Bankangestellten und einem Setzer von Ihrer Zeitung. Sie bekamen die Erlaubnis, sich auf Station VII umzusehen und mit allen männlichen Patienten zu sprechen. Vermutlich glaubten sie, dort den Tatverdächtigen wiederzuerkennen.«
»Das war nicht der Fall?«
»Gott bewahre, nein. Und jetzt hoffe ich sehr, dass uns der lange Arm des Gesetzes in Frieden lässt.«
»Sie halten es also für völlig ausgeschlossen, dass einer Ihrer Patienten einen Mord begehen könnte?«
Der Psychiater rollte so wild mit den Augen, dass William am liebsten seinen Blick abgewandt und die nackten Baumkronen vor dem Fenster betrachtet hätte, doch er konnte sich beherrschen.
»Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, Herr Schrøder. Bei psychisch Kranken ist nichts auszuschließen. Aber ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, die Umstände in Betracht gezogen.«
»Es gibt auch Patienten, die zu Gewalt neigen, verstehe ich Sie da richtig?«
»Aber ja. Falls gewisse Voraussetzungen gegeben sind und sich eine Gelegenheit bietet. Aber das ist bei uns nicht der Fall!«
»Ich verstehe.«
»Tun Sie das?«
»Natürlich. Im Grunde bin ich auch mehr an Ihrer Meinung hinsichtlich der Handlungsmuster eines Mörders interessiert, seines ... wie soll ich mich ausdrücken ... seines Modus operandi.«
Hatte er sich eingebildet, mit dem Arzt auf gleicher Augenhöhe diskutieren zu können, indem er sich eines lateinischen Ausdrucks bediente, unterlag er einem peinlichen Irrtum. Das Einzige, was beiden gemeinsam war, waren ihre Brillen. Der Arzt breitete abrupt die Arme aus, während seine Augen hinter den Gläsern fast aus ihren Höhlen kullerten: »Du lieber Himmel, woher soll ich denn das wissen? Es wimmelt doch nur so von Handlungsmustern, und keines gleicht dem anderen.«
»Nun, einige gemeinsame Merkmale, zum Beispiel bei Serienmördern, wird es doch sicherlich geben.«
»Aha, Sie wollen also andeuten, dass der Mann, den die Polizei sucht, weitere Morde begehen könnte?«
William ruderte zurück. »Nein, nein, das war eine generelle Frage.«
»Die von einem Mann mit so geringer Erfahrung, wie ich sie habe, nicht zu beantworten ist. Zwar habe ich schon Menschen kennen gelernt, die getötet haben, aber nicht von der Sorte, an die Sie denken.«
Es folgte ein längerer Vortrag, und William schrieb eifrig mit. Er fühlte sich wie ein Student in einem Hörsaal, wie ein Laie, der versuchte, eine Theorie zu verstehen, ohne die nötigen Vorkenntnisse zu besitzen. Doch einiges begriff er.
Bei einzelnen psychisch gestörten Menschen, dozierte Bengtsen, seien die üblichen Barrieren und Tabus nicht vorhanden. Ethische Normen im Umgang mit anderen Menschen könnten dann außer Kraft gesetzt sein, und das Empfinden von Gut und Böse variiere je nach der augenblicklichen Situation, sofern der Betreffende überhaupt ein bewusstes Verhältnis zu seiner Umwelt habe. Der Journalist sollte wissen, dass solch asoziales Verhalten auch bei so genannten gesunden Menschen vorkomme. Ein Psychopath sei nicht unbedingt geisteskrank in der eigentlichen Bedeutung des Wortes, aber dennoch zu den perversesten Handlungen imstande. Im Gegensatz zu psychisch Kranken seien sich dissoziale Menschen über ihr Verhalten im Klaren, nur nicht imstande, sich über ihre ererbten, egoistischen Instinkte hinwegzusetzen.
Bengtsen erging sich in langen Exkursen. Und versuchte William das Dilemma seines Berufsstands zu verdeutlichen. In den USA sei es beispielsweise verboten, bei psychisch Kranken das Todesurteil zu vollstrecken, unabhängig davon, wie ungeheuerlich ihre Verbrechen seien. Einer, der wegen Mordes auf seine Hinrichtung warte, heiße Claude Maturana. Warte in Anführungszeichen, denn er sei geistig so verwirrt, dass er kaum das Urteil zur Kenntnis genommen habe. Sei es moralisch vertretbar, den Mann zu behandeln, nur damit er eines Tages auf dem elektrischen Stuhl lande?
»Ich schenke genetischen Erklärungsansätzen einfach keinen Glauben«, sagte Bengtsen abschließend, »wenn es um Mörder geht. Sie kennen doch sicher den Sozialpsychologen Stanley Milgram.«
»Ein wenig.«
»Seiner Meinung nach kann jeder, absolut jeder unter gewissen Bedingungen zum Mörder werden. Denken Sie nur an Hitler-Deutschland. Ich halte Milgrams Theorien für stichhaltiger als die von Adrian Raine, einem anderen Amerikaner, der behauptet, mörderische Hirne hätten eine besondere Struktur. Solche Gehirne zeigen angeblich eine geringere Aktivität in dem Teil, der negative Impulse verarbeitet. Daher könnten die betreffenden Personen ihre Aggressionen nur unzureichend kontrollieren. Nun ja, ich will diese Möglichkeit nicht völlig ausschließen, aber ...«
»Ist eine Heilung gewisser Patienten unmöglich?«
»Manchmal ja, auch wenn es sich nicht um eine Geisteskrankheit handelt. Wachsen Kinder unter furchtbaren Umständen auf, werden aus ihnen mitunter die schlimmsten Verbrecher. Kindliche Traumata können zu asozialem Verhalten führen. Doch auch gesunde, erwachsene Menschen können sich zu Mördern entwickeln, wenn sie zum Beispiel verinnerlicht haben, dass Konflikte am besten durch Gewalt zu lösen sind.« Er warf einen Blick aus dem Fenster, während sich seine Stirn in Falten legte. »Vor Jahren habe ich einen interessanten Fall erlebt: Ein zuvor gesunder Mann bekam unheilbare psychische Probleme, weil er gemordet hatte. Doch Sie werden verstehen, Herr Schrøder, dass ich Ihnen unmöglich eine allgemeine Charakteristik geben kann, schon gar nicht in Bezug auf einen Mörder, der mir völlig unbekannt ist.«
Vielleicht hatte er das schon getan, dachte William hinterher. Selbst ein kompetenter und ein wenig exzentrischer Arzt wie Jomar Bengtsen konnte nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass einer seiner Patienten ein Mörder war.
Das Gespräch, besser gesagt der Monolog des Mediziners, wurde durch das zweimalige Piepsen seines Handys unterbrochen und nach exakt dreißig Minuten beendet. An den Maßstäben eines Interviews gemessen, war es allzu sprunghaft und kurz gewesen, was oft der Fall war, wenn der Interviewer nicht genau wusste, was er wollte. Für William gab es wenig festzuhalten und noch weniger, was für tausende von Lesern von Interesse gewesen wäre. Dennoch hatte Bengtsen ein paar Dinge erwähnt, denen William mehr Beachtung hätte schenken sollen. Etwa über den Sozialpsychologen Milgram und die asozialen Impulse scheinbar normaler Menschen. Oder waren diese Worte an anderer Stelle gefallen?
Als er nach Heimdal zurückkehrte, saß Ivar vergnügt in der Kantine. William schilderte ihm in Kürze seine ambivalenten Eindrücke und gab eine Beschreibung des Interviewpartners.
»Ist ja auch kein Wunder, dass Leute von ihrem Arbeitsumfeld beeinflusst werden«, entgegnete Ivar.
»Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben.«
»Wie auch immer, während du zur Vorlesung bei Dr. Valium warst, habe ich einen Anruf vom Präsidium bekommen. Kolbjørnsen hat mitgeteilt, dass eine der Banknoten aufgetaucht ist.«
»Wo?«
»In einem Lokal in Lademoen namens Pizza-Burger-Top. Es liegt am Mellomveien. Eine Polizeibeamtin, Maria soundso, war dort und hat aus Mitleid ein paar Hamburger für eine arme Familie gekauft. Kannst du dir das vorstellen?«
»Maria Senje. Als ich sie letztes Mal gesehen habe, las sie gerade aus Peter Hase vor.«
»Zum Bezahlen hatte sie nur einen Tausender und bekam einen nagelneuen Fünfhunderter zurück. Man kann ja nie wissen, dachte sie und verglich die Nummer mit der auf der Bankliste. Volltreffer! Der litauische Inhaber konnte ihr sogar mitteilen, dass er den Schein von einer Frau aus der Nachbarschaft habe, die wenige Minuten zuvor bei ihm eingekauft hatte. Am Morgen haben Kolbjørnsen und Balke ihr einen Besuch abgestattet ...«
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