Jetzt war sie allein. Stand zehn Minuten am Fenster, bevor sie sich losriss. Ging langsam ins Schlafzimmer, zog einen Hocker an den geöffneten Kleiderschrank, stieg auf ihn und angelte sich eine Pappschachtel vom obersten Regal. Setzte sich aufs Bett und entfernte den Deckel. Er hatte ihr nie verboten hineinzuschauen. Kurz vor ihrer Hochzeit hatte er ihr sogar den Inhalt gezeigt, jeden einzelnen Gegenstand hervorgeholt, ihr anvertraut, was er alles mitgemacht hatte, jedenfalls das meiste. Er fand, sie sollte das wissen, bevor sie ihm ihr Jawort gab.
Sein innerstes Geheimnis, das er nicht mit ihr zu teilen vermochte, musste sich in dieser Schachtel befinden. Doch falls es so war, falls die kleinen Gegenstände ihn an das Allerschlimmste erinnerten, warum behielt er sie dann? Warum grub er nicht ein Loch und ließ die Reliquien für immer darin verschwinden? Sie nahm die Dinge heraus und hielt sie eine Weile in der Hand, bevor sie sie auf die geblümte Bettdecke legte: die Dokumente, das Kästchen mit den Medaillen, die Zeitungsausschnitte, die metallenen Identifikationszeichen und zuletzt – das Armeemesser mit dem grünen Griff. Sie zog es langsam aus der Scheide, worauf die scharfe Klinge im Licht aufblitzte, das durch den Erker fiel.
Das Messer.
So hatten sie ihn genannt. Falls er die ganze Geschichte und seine psychischen Leiden nicht erfunden hatte, um die Demütigung verkraften zu können, beim Militär aussortiert worden zu sein.
Dennoch begannen ihre Finger zu zittern. Dann hörte sie das Geräusch seines Wagens und legte alles rasch an seinen Platz zurück. Als er den Flur betrat, hatte sie die Schachtel wieder auf das oberste Regal geschoben und ging ihm lächelnd entgegen.
musste öffentlich einräumen, auf der Stelle zu treten. Das fürchterliche Verbrechen, das ganz Lade aufgeschreckt hatte, schien unaufgeklärt zu bleiben. Beinahe vier Wochen waren vergangen, seit der Student Gorm Ordal seine Mutter tot aufgefunden hatte, und obwohl die Polizei jeden Stein umdrehte und die wenigen gesicherten Erkenntnisse von allen Seiten betrachtete, sogar mehrmals mit denselben Personen sprach, gab es einfach nichts Neues, das die Nachforschungen in die richtige Richtung hätte lenken können. Alle Wege mündeten in eine Sackgasse.
Die einzige konkrete »Spur« waren die kurzen, deformierten Zigarettenstummel, die vielleicht nicht einmal vom Täter stammten. Hauptkommissar Storm zufolge war es unmöglich, so etwas wie Fingerabdrücke auf ihnen zu erkennen. Da half es auch nicht, dass die Spurensicherung feststellte, beim Tabak handele es sich um Petterøes Blau Nummer drei. Die Lösung des Falls schien in immer weitere Ferne zu rücken.
Die Leute fanden es regelrecht peinlich, dass weder die Experten von KRIPOS noch die Mitarbeiter der Trondheimer Polizeibehörde etwas in der Hand hatten. Natürlich gab es eine große Dunkelziffer, Todesfälle, bei denen niemand Verdacht schöpfte, es könne ihnen ein Verbrechen zugrunde liegen, doch meistens fand die Polizei früher oder später den Schuldigen. Und selbst in den relativ wenigen unaufgeklärten Fällen gab es in der Regel ein paar Indizien: einzelne Haare, Fußabdrücke, zurückgelassene Waffen, ein auffälliges Fahrzeug, winzige Blutspuren oder anderes mikroskopisches Material, das Verdächtige mit dem Tatort verknüpfte. Doch in diesem Fall hatte niemand beobachtet, wie eine Person, die es sehr eilig gehabt hatte, in einen Wagen gestiegen und davongebraust war.
Alles deutete auf einen Raubmord hin, für den es nur zwei mögliche Zeugen gab – mögliche, weil keinesfalls sicher war, dass es sich bei der »männlichen Person«, die die Bankangestellte sowie der Setzer gesehen hatten, um den Mörder handelte. Vielleicht hatten sie nicht einmal dieselbe Person beobachtet, und die Polizei konnte weiterhin nicht ausschließen, dass der Täter eine Frau war. Entweder war der Mörder mit allen Wassern gewaschen oder er hatte einfach eine Riesenportion Glück gehabt.
Glück, dachte William Schrøder, hatte auch Vibeke Ordal gehabt, wenn auch nur am Anfang. Er und Ivar verwendeten viel Zeit darauf, über den Fall zu diskutieren, nicht zuletzt, weil sie in diesen stärker involviert schienen als üblich. Zum einen war der Tipp von einem ihrer Kollegen gekommen, zum anderen war einer der beiden identischen Briefe an Ivar adressiert gewesen, vermutlich weil der Absender seine Veröffentlichung in der Zeitung anstrebte.
Nach starkem Druck seitens der Polizei sowie mehreren internen Konferenzen hatte sich Chefredakteur Gunnar Flikke schweren Herzens dazu entschieden, von einer Veröffentlichung der kurzen Nachricht Abstand zu nehmen – fürs Erste. Polizeioberrat Martin Kubben hatte mit allem Nachdruck gefordert, die Zeitung solle es bei ihrer Internetumfrage: Was meinen Sie? Welche Strafe verdient der Angeklagte im Giftmordprozess? bewenden lassen. (Die peinliche Umfrage wurde nach einer Stunde gestoppt, war zu diesem Zeitpunkt jedoch schon von anderen Massenmedien aufgegriffen worden.) Was war mit dem Mord am Victoria Bachkes vei? Sollte man die Bevölkerung nicht warnen? Kubben verneinte und wusste den Kriminaldirektor hinter sich, während auch der Polizeipräsident seine ganze Autorität geltend machte, um für eine Geheimhaltung des Briefes zu sorgen. Gerade weil die Mitteilung möglicherweise gar nicht auf das Konto des Täters, sondern irgendeines Trittbrettfahrers ging, weigerte er sich, die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Leute würden sich grundlos gegenseitig verdächtigen, sich nicht mehr aus dem Haus trauen, ihre Türen verriegeln und in unnötige Hysterie verfallen.
Doch wenn der Mörder es ernst meinte?
Das war und blieb ein Dilemma. Sollte er ein weiteres Mal zuschlagen, würden Polizei und Zeitung einräumen müssen, von der Drohung gewusst zu haben. Doch Kubben und Storm hatten sich geschworen, ihm nicht die Freude zu gönnen, zur öffentlichen Person zu werden.
Für William war die Frage nach dem Motiv der entscheidende Punkt. Hatte der Täter von Anfang an töten wollen oder sich dazu gezwungen gefühlt, nachdem er das Geld gestohlen hatte? Handelte es sich um einen gewöhnlichen Raubmörder, einen alten Bekannten der Polizei, würde er kaum ein zweites Mal töten. Wann hatte er von Vibeke Ordals Lottogewinn erfahren, falls er überhaupt davon gewusst hatte? Angenommen, es handelte sich um einen Arbeitskollegen, der vom Gewinn erfahren hatte – wie hatte er wissen können, dass sie nach der Arbeit eine beträchtliche Summe von ihrem Konto abheben würde? Hatte er vor ihrem Büro gestanden und ihr Telefongespräch mit dem Sohn belauscht? Nein, da war es schon wahrscheinlicher, dass sich der Täter in der Bank befunden und beschlossen hatte, dem erstbesten Kunden zu folgen, der einen größeren Betrag abheben würde. Natürlich konnte es sich auch um einen Verrückten handeln, der durch die Gegend gestreift war und sich spontan für sein Opfer entschieden hatte.
William änderte seufzend seine Sitzposition. Der morgendliche Becher Kaffee war längst kalt geworden.
Falls es sich doch um einen zynischen Wiederholungstäter handelte, räsonierte er weiter – wie sollte man diesen aufspüren, da man nichts anderes über ihn wusste, als dass er offenbar, so wie die Hälfte der gesamten norwegischen Bevölkerung, über einen Computer verfügte? Da die Zeitung eingewilligt hatte, die Drohung zu verschweigen, hatte Kolbjørnsen im Gegenzug versprochen, sie über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, hatte bis jetzt aber kaum etwas mitzuteilen gehabt. Sowohl der Umschlag als auch das rote Papier konnten aus jedem beliebigen Schreibwarengeschäft stammen. Kein einziger Fingerabdruck war gefunden worden. Der Text war möglicherweise mit Hilfe eines Druckers der Marke Cannon ausgedruckt worden. Dies schien den Eindruck zu bestätigen, es handele sich um eine intelligente Person, die behutsam vorging, Handschuhe trug und Schuhsohlen besaß, die anonyme Abdrücke hinterließen. Eine Person, die nichts dem Zufall überließ. Eine Person, die in einer psychiatrischen Klinik nichts zu suchen hatte. Dennoch wollte William dorthin und hatte mit großer Mühe einen Gesprächstermin mit einem der Chefärzte vereinbaren können. Nach einem Blick auf die Uhr stand er auf und zog seine Jacke an.
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