Fredrik Skagen
»Friendship often ends in love,
but love in friendship – never.«
Charles Caleb Colton
Montag, 18. März
Bibliothekarin vermisst
Die Trondheimer Polizeibehörden fahnden nach der Bibliothekarin Anne Lise Vatn (Foto), die seit dem Morgen des 14. März spurlos verschwunden ist. An diesem Tag verließ sie ihre Wohnung am Myklestien in Byåsen, um zu ihrem Arbeitsplatz in die Stadt zu fahren. Anne-Lise Vatn ist bei der Volksbibliothek Trondheim am Peter Egges Plass beschäftigt. Weil auch ihr Auto bislang nicht gefunden wurde, befürchtet ihr Lebensgefährte, ihr könne etwas Ernstes zugestoßen sein.
Anne-Lise Vatn (39) ist 1,70 groß, schlank und spricht Trønderdialekt. Sie hat hüftlanges aschblondes Haar und blaue Augen. Vor ihrem Verschwinden trug sie eine dunkelbraune Wildlederjacke, einen schwarzen Rock, schwarze Handschuhe und braune Stiefeletten. Ferner hatte sie eine Umhängetasche aus dunklem Leder bei sich. Bei ihrem Auto handelt es sich um einen grünen Honda Civic, Baujahr 1992, Kennzeichen: XD-51759.
Ihrem Lebensgefährten zufolge war sie bei guter Gesundheit, neigte jedoch in letzter Zeit zu Depressionen.
Für Arvid K. Bang, von Freunden des Schützenvereins »Bangen« genannt, war dies ein ganz gewöhnlicher Tag, bis er nach der Arbeit noch auf die Post ging und schließlich an die Reihe kam. Wie immer an einem Freitagnachmittag waren viele Menschen in der Filiale in Elgeseter, und so prüfte er seiner Gewohnheit gemäß zunächst, in welcher Schlange er sich einordnen sollte. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es in der längsten Schlange am schnellsten voranging, denn in der kürzesten befand sich in der Regel eine Nervensäge, die mit tausend Fragen den Verkehr aufhielt. Heute in Gestalt einer Frau in verschlissenen Kleidern, die aussah wie die reinste Vogelscheuche. Er hatte jedoch den Eindruck, als habe die Frau bereits eine ganze Zeit lang am Schalter gestanden und ihr Anliegen bald erledigt, sodass er es für das Beste hielt, sich hier einzureihen. Hinter ihr wartete ein Student, der nur einen Umschlag in der Hand hielt, gefolgt von einem älteren Herrn, der sicher nur seine Pension abheben wollte. In den beiden anderen Schlangen standen jeweils fünf Personen, und Arvid zögerte nicht lange, ehe er sich der kürzesten anschloss.
Während des Wartens steckte er seine Hand in die Jackentasche und holte zwei rechteckige Formulare heraus: einen pfirsichfarbenen Auszahlungs- sowie einen etwas helleren Einzahlungsschein. Er hatte sie bereits im Voraus ausgefüllt, in seinem unterirdisch gelegenen Archiv am Holtermannsvegen gesessen und sich genau überlegt, wie viel Geld er von seinem Konto abheben durfte. Nicht zu wenig, aber auch nicht zu viel, obwohl sich der Zinsverlust in Grenzen hielt. Seine Ersparnisse waren ohnehin bescheiden und hatten sich in letzter Zeit erheblich reduziert. Von den maximal sechs Abhebungen innerhalb eines Jahres hatte er bereits drei getätigt, und schließlich war es erst April. Dass es nun zu einer vierten kam, lag nicht zuletzt an einer unvorhersehbar kostspieligen Autoreparatur; außerdem hatte er – wie ihm jetzt klar wurde – bei den letzten beiden Totorunden unverzeihlich hohe Beträge gesetzt. Es wäre sicherlich gut gegangen, wenn er sein System um einige risikolose Tipps erweitert hätte.
Aber wer hätte denn ahnen können, dass er sich ausgerechnet bei den vermeintlich sichersten Tipps verrechnen würde, und das zwei Wochen nacheinander?
Er ärgerte sich immer noch darüber, dass er der Versuchung nicht widerstanden und mehrere tausend Kronen verloren hatte. Dieses Geld hatte er regelrecht verplempert und Idioten in den Rachen geworfen, die aufs Geratewohl tippten, anstatt die Tabellen zu studieren und Spiel für Spiel nüchtern zu analysieren. In dieser Woche musste er sich beherrschen und durfte nicht mehr setzen, als sein Kontostand zuließ. Vielleicht sollte er sogar eine Totopause machen und es stattdessen mit einem Lottoschein versuchen, der für die Ziehungen der nächsten fünf Wochen galt. Waren nicht aller guten Dinge drei?
Die Vogelscheuche wollte wissen, ob sie ihren Pass benötige, wenn sie in Deutschland etwas von ihrem Konto abheben wollte. Und ob ihr der Schalterbeamte nicht Alternativen zu Bargeld vorschlagen könne. Sie habe schreckliche Geschichten gehört, wie leicht einem heutzutage das Geld abhanden komme. Gab es nicht so etwas wie Reiseschecks? Ach wirklich, eine Scheckkarte wäre praktischer? Diese Plastikkarten, die man in Automaten steckte? Sei das nicht alles fürchterlich kompliziert?
Der Mann im Diensthemd, der hinter dem Schalter saß, war von engelsgleicher Geduld, argumentierte und erklärte, holte Broschüren und erläuterte deren Inhalt. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete Arvid, wie es an den beiden anderen Schaltern voranging, doch als er sich gerade entschieden hatte, die Schlange zu wechseln, betraten zwei neue Kunden die Filiale und reihten sich jeweils in die beiden anderen Schlangen ein, die Hände voller Formulare. Warum war ausgerechnet er immer vom Pech verfolgt? Auf einem Postamt in London – damals, als er mit Vibeke eine Pauschalreise gemacht hatte – war er mit einem sehr viel gerechteren System konfrontiert worden. Alle warteten in einer Schlange, und wenn über einem Schalter ein Licht anging, war der nächste Kunde an der Reihe. So konnte es auch nicht vorkommen, dass einem jemand über die Schultern guckte oder in den Rücken stieß. Arvid hatte dieses System einmal einer jungen Schalterbeamtin dieser Filiale vorgeschlagen, doch sie hatte ihn nur verwundert angeschaut und gesagt, nach der alten Methode ginge es im Großen und Ganzen auch gerecht zu. Ja – im Großen und Ganzen.
Selbst dem Studenten hinter der unvorteilhaft gekleideten Dame wurde es jetzt zu viel. Er drehte sich um, verzog das Gesicht und zuckte ratlos mit den Schultern. Der Rentner schaute den jungen Hanswurst mit Unverständnis an, doch Arvid nickte ihm vielsagend zu und erlaubte sich, den Finger an die Schläfe zu führen und zu drehen, wie er es einmal bei der Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland während eines Fernsehauftritts gesehen hatte. Kannte die Geduld des Schalterbeamten denn gar keine Grenzen? Außerdem wurde deutlich, dass die Frau überhaupt nicht vorhatte, in der nächsten Zeit nach Deutschland zu reisen. Sie befriedigte auf dem Postamt nur ihre Redseligkeit. Kontaktbedürfnis nannte man das wohl. In einer vollkommenen Welt, dachte der Pistolenschütze Arvid in einer Sekunde tiefsten Hasses, hätte so ein Wesen kaum eine Existenzberechtigung. Mit dem Gesetzbuch in der Hand hätte er seine Walther ziehen und sie umlegen können. Ein Schuss in den Nacken wäre genug. Paff.
Wie ihm bereits geschwant hatte, wurden auch die beiden Kunden, die lange Zeit nach ihm die Filiale betreten hatten, vor ihm bedient. Als er endlich an der Reihe war, schob er seine beiden Scheine mit wenig Enthusiasmus unter den Gitterstäben hindurch, und obwohl der Beamte so freundlich lächelte wie immer, hatte Arvid keine Lust so zu tun, als sei er damit einverstanden, dass ein Postangestellter einer Frau zehn Minuten lang gestattete, die Filiale als Sozialamt zu benutzen. Er war selbst im öffentlichen Dienst tätig und trat anderen Menschen stets freundlich entgegen, ließ jedoch nie zu, dass dies auf Kosten anderer ging, die seine Dienste ebenfalls in Anspruch nehmen wollten. Der Mann hinter dem Schalter legte die Scheine vor sich hin und begann Zahlen und Buchstaben einzutippen. Dann hob er den Kopf und starrte auf den Monitor, vermutlich um zu kontrollieren, ob der Kontostand für die Auszahlung noch ausreichte, was natürlich der Fall war. Arvid besaß zu jeder Zeit vollkommene Übersicht über seine Finanzen, und allein der Gedanke, sein Konto womöglich zu überziehen, lag ihm fern.
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