Alle schönen Träume eines beiläufig eingestrichenen Gewinns zerplatzten auf der Stelle. Irritiert und enttäuscht zog Arvid sein Portemonnaie hervor. Während er es öffnete und den Zettel fand, auf dem er die Nummer seines Sparkontos notiert hatte, zitterten seine Hände so stark, dass er die Schokolade fallen ließ. Er kümmerte sich nicht darum und verglich die Zahlen, Ziffer für Ziffer. Noch einmal, langsam. Unwillkürlich spitzte er die Lippen. Null – fünf – vier – null – fünf ...
Danach war er so erregt, dass er beinahe auch sein Portemonnaie hätte fallen lassen. Es war seine Kontonummer. Es war sein Geld.
Die Euphorie ließ ihn für einen Augenblick vergessen, dass es sich rechtmäßigerweise kaum um sein Geld handeln konnte. Er faltete den Auszug sorgsam zusammen und steckte ihn ins Portemonnaie, das er wieder in seiner Jacke verschwinden ließ. Dann drehte er sich um und wollte die Schokolade aufheben, musste jedoch zur Seite springen, als ein junger Bursche viel zu schnell über den Bürgersteig radelte. Solche Typen sollte man erschießen.
Seine Schokolade mümmelnd, den Kopf voller sehnsüchtiger, verwirrender und erwartungsfroher Fantasien, spazierte er weiter die Klostergata entlang. Es war ein schöner Nachmittag, der einen baldigen Frühling verhieß. Die letzten Schneereste waren soeben geschmolzen, doch ein zufälliger Beobachter hätte sicher den Eindruck gewonnen, dass ihn alles andere als das Wetter interessierte. Wie immer ging er entschlossenen Schrittes – vermutlich ein Mensch mit klaren Zielen und festen Gewohnheiten. Der 48-jährige Arvid Bang war ein klein gewachsener Mann, der seine Körpergröße mit extra dicken Sohlen zu kompensieren versuchte. Er war ein wenig untersetzt, hielt sich aber gerade. Paul Mortensen, der Vorsitzende des Schützenvereins, behauptete, Bangen strotze vor Gesundheit, und dies war keine schlechte Beschreibung. Denn dem beträchtlichen Verzehr von Hamburgern, Chips und Schokolade zum Trotz war Arvid immer noch gut in Form. Er rauchte nicht, fuhr nur in Ausnahmefällen mit dem Auto zur Arbeit, lief Ski und ging hin und wieder zum Krafttraining. Im Sommer spielte er sogar ab und zu Altherrenfußball. Wenn er nicht gerade mit Vibeke fernsah oder ein Kreuzworträtsel löste, machte er sich auf den Weg zum Schützenverein in Buran und schoss ein paar Serien. Zum Wettkampfschützen hatte er es nie gebracht, machte sich jedoch unentbehrlich bei der Ausrichtung von Wettkämpfen, der Verteilung von Prämien und der Wahrnehmung administrativer Aufgaben. Vibeke und er hatten viel Zeit, jetzt, da ihr einziger Sohn Ola nach Bergen gezogen war, um Wirtschaft zu studieren. Ein Studium, von dem Arvid selbst geträumt, das er jedoch nie realisiert hatte. Was nicht an seinen Fähigkeiten lag – so viel wusste er –, doch bereits als Zehnjähriger war er darauf erpicht gewesen, sein eigenes Geld zu verdienen, und seine Eltern hatten ihm keine Steine in den Weg gelegt, als er gleich nach Beendigung der Mittelschule eine Stelle bei der Stadtverwaltung antrat.
Genau das hätten sie tun sollen, bemerkte er zuweilen bitter, nachdem er – was selten vorkam – zu tief ins Glas geschaut hatte. Ein Mensch mit seinem Potential sollte sich zu einer höheren Ausbildung eigentlich nicht nur aufgefordert, sondern geradezu gezwungen fühlen. »Aber es hat keinen Sinn«, pflegte er abgeklärt hinzuzufügen, »der Vergangenheit nachzutrauern.« Vibeke nickte dann mehr oder minder bereitwillig, hatte ihrem Ehemann jedoch nie die Frage zu stellen gewagt, ob er seine geistigen Fähigkeiten womöglich überschätzte.
Zunächst war es nur ein Sommerjob gewesen, doch er blieb dabei, als die Behörde in das neue, geräumige Haus am Holtermannsvegen umzog, wo sich die Ingenieure der Gemeinde niederließen. Ihm gefiel es dort gut. Im Gegensatz zu den meisten anderen ungelernten Angestellten und Assistenten war er flink und wissbegierig und begriff frühzeitig die Notwendigkeit, selbst aktiv zu werden und die Initiative zu ergreifen. Es dauerte nicht lange, bis er sich herausnahm, konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Archivarbeit zu machen, und obwohl sein Chef nicht von all seinen Ideen begeistert war, wurden doch so viele in die Tat umgesetzt, dass man ihn beachtete. Am Anfang war der Keller ein chaotisches Magazin, das nicht nur das Archiv beherbergte, sondern in dem von Brechstangen und Spaten bis zu Winkelmessgeräten, Karten und Nivellierinstrumenten einfach alles aufbewahrt wurde. Arvid hatte dazu beigetragen, Ordnung zu schaffen – weg mit allem, was nicht ins Archiv gehörte! –, und die Arbeit befriedigte seinen Hang zu systematisierter Routine. Im Laufe seiner bald dreißigjährigen Karriere hatte sich vieles verändert, auch was seinen persönlichen Status betraf. Hatte er als Laufbursche begonnen, der Messgeräte in den Boden steckte, verfügte er nun über eine eigene Zelle, die durch Glas und Leichtbauwände vom Archiv abgetrennt war. Nachdem er mit der Zeit einen Schreibtisch, Telefon, Computer sowie ein Kopiergerät bekommen hatte, begann er die Zelle als Büro zu bezeichnen. Jeder, der eine Mappe einsehen oder ausleihen wollte, musste dies nun schriftlich quittieren und sich einem praktischen System unterordnen, das der frühere Assistent ausgearbeitet hatte. Dank der Gewerkschaft, seiner Emsigkeit und Redebegabung sowie verschiedener Abendkurse hatte sich Arvid in den letzten Jahren den Titel eines Archivars zulegen können, obwohl er keine fachliche Ausbildung besaß. Diesem Status hatte er es zu verdanken, dass er an Abteilungskonferenzen teilnehmen durfte. Phasenweise standen sogar zwei bis drei Assistenten unter seinem Kommando. Wenn ihm jemand zu Leibe rückte, zögerte er nicht, sich als Chefarchivar zu bezeichnen.
Doch die jüngeren Kollegen mochten ihn, denn er war freundlich und umgänglich und alles andere als ein Sklaventreiber. Über ausgedehnte Kaffeepausen und private Telefongespräche sah er großzügig hinweg, vorausgesetzt, die Arbeit wurde gewissenhaft erledigt. Im Gegenzug scherten sich die Assistenten nicht darum, dass ihr Chef einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit dem Schützenverein widmete. Zwar geschah es, dass sie hinter seinem Rücken feixten und die Ansicht vertraten, sein Arbeitsstil nehme parodistische Züge an, doch solange er auf ihrer Seite stand und sich für ihre Interessen einsetzte, sahen sie keinen Grund, sein Gebaren zu kritisieren.
In diesem Moment baute er ein Luftschloss nach dem anderen und fantasierte, inwieweit sich sein Leben verändern würde, wenn ihm wirklich ein zusätzliches – steuerfreies! – Jahresgehalt zufiele. Sobald er nach Hause kam, würde er zunächst die telefonische Kontoauskunft in Anspruch nehmen. Damit konnte er sichergehen, dass die Summe tatsächlich auf sein Konto eingegangen war und der Postangestellte in dieser Hinsicht keinen Fehler gemacht hatte.
Sie wohnten unten auf der Insel, er und Vibeke, in der dritten Etage eines von zwei roten Backsteinblocks am alten Eislaufstadion, und verfügten in der an die Klostergata angrenzenden Baracke über einen Garagenstellplatz. Die Eigentumswohnung befand sich am Ende des Wohnblocks, besaß Wohnzimmer, Küche, Bad sowie zwei Schlafzimmer und gestattete vom Balkon aus einen schönen Ausblick auf den Fluss und den Elsterpark. Wenn man sie beispielsweise mit der Wohnung Paul Mortensens in Heimdal verglich, war sie nicht gerade geräumig, doch Arvid hatte ihm nach dem Kauf versichert, sie zu einem ungewöhnlich niedrigen Preis erworben zu haben. Außerdem, fügte er hinzu, sei sie größer als die übrigen Wohnungen des Hauses, weil dem Architekten bei der Raumaufteilung offenbar ein Fehler unterlaufen wäre. Paul, der Arvids Neigung zur Schönrednerei kannte, hatte gegrinst und augenzwinkernd eingeräumt, jedermann könne sehen, dass sich die Wände seiner Wohnung im dritten Stock nach außen beulten, aber diese Art der Ironie prallte in der Regel an Arvid ab. Er lächelte bloß und betonte, wie praktisch es sei, auf der Insel zu wohnen. Zur Arbeit könne er zu Fuß gehen und ins Zentrum sei es nur ein Katzensprung. Paul musste ihm Recht geben.
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