Wenn er nach Hause kam, wollte er die Gardine beiseite schieben, ein klärendes Gespräch suchen und Vibeke die faire Chance geben, ihre Entscheidung zu überdenken. Sie würden sich wieder versöhnen, wie so oft zuvor, und dann würde er ihr von der Fehlbuchung erzählen, die ihn für eine Weile in den Glauben versetzt hatte, sie seien um 200 000 Kronen reicher.
Vielleicht konnten sie, als Dank für ihre Ehrlichkeit, sogar mit einer kleinen Belohnung rechnen, wenn er sich am Montag an den Postbeamten wenden und auf den Fehler aufmerksam machen würde.
Nachdem er ein paar Worte mit einem Mann gewechselt hatte, der seinen Dackel spazieren führte, machte er sich auf den Heimweg, grüßte Frau Pedersen im Treppenhaus freundlich und schloss seine Wohnungstür im zweiten Stock auf.
Vibeke war bereits angezogen und stand mit einer Zigarette in der Hand am Balkonfenster.
»Du bist mir vielleicht einer!«
»Was meinst du?«
Die Hand mit der Zigarette deutete auf den Fernsehsessel, auf dem eine kleine blaue Kunststoffmappe lag, die ihm sofort bekannt vorkam. Eigentlich ließ er sie nie offen herumliegen, doch die gestrigen Ereignisse hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht und seine Gewohnheit vergessen lassen.
»Waren wir uns nicht einig, dass du für maximal zweihundert in der Woche spielst?«
Ihre Stimme war unkenntlich, eiskalt und bitter. Vom flehentlichen Ton des gestrigen Tages war nichts übrig geblieben. Arvid spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss; aus Scham und Wut trat er von einem Bein auf das andere. Sie hatte ihre Nase in seine Totounterlagen gesteckt und festgestellt, dass er in den letzten Wochen mehr Geld verspielt hatte, als er jemals gewonnen hatte.
»Da habe ich jahrelang beharrlich in den Aktienfonds eingezahlt, und du handelst einfach auf eigene Faust und verspielst unsere halben Sommerferien!«
Er blieb stehen und fummelte an der Mappe herum, während er das Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte.
»Genau wie bei all deinen anderen tollen Hobbys, für die du das Geld aus dem Fenster geschmissen hast: die idiotischen Versandeinkäufe, die Verluste auf der Trabrennbahn, die Videokamera, die du nie mehr benutzt, die Stereoanlage fürs Auto, die unzähligen sinnlosen Rubbellose, das Handy, das nicht funktioniert, die Ray-Ban-Brille, die du kaputtgemacht hast, die Fußballjahreskarte ...«
Sie vergaß kaum etwas, ließ an seinen finanziellen Transaktionen kein gutes Haar und erinnerte ihn unaufhörlich daran, wer von ihnen mehr Geld zum gemeinsamen Haushalt beisteuerte.
Als Arvid endlich zu einer Erwiderung ansetzte, merkte er, wie zögerlich seine Worte kamen, obwohl ihm mehr als genug auf der Zunge lag: »Sommerferien? Bildest du dir etwa ein, du könntest beides haben? Soll ich etwa mit dir in Urlaub fahren und die Sache mit deinem verdammten Chef nur als Spaß betrachten?«
Das hatte gesessen, er spürte es. Sie nahm einen tiefen Zug. Als sie den Rauch ausstieß, zitterten ihre Lippen.
»Glaubst du etwa, ich lasse mir alles gefallen?«, fügte er hinzu. Er wusste, dass ihm als Ehemann bitteres Unrecht geschehen war, und ballte unwillkürlich die Hand, die nicht um die Mappe fasste. Paff! Er hätte sie auf der Stelle erschießen können.
Aber Vibeke gab sich keinesfalls geschlagen. Nachdem sie ihm erklärt hatte, dass aufgrund von Preben an gemeinsame Sommerferien selbstverständlich nicht zu denken sei, sagte sie ihm, sie habe natürlich an ihren Anteil des Feriengeldes gedacht. Von diesem Moment an gab ein Wort das andere, und so stritten sie eine halbe Stunde lang, ehe sie sich in Olas Zimmer einschloss und er sich an die Spüle klammerte, weil er glaubte, sich übergeben zu müssen.
Bei der Arbeit ließ sich Arvid vorläufig nichts anmerken. Er verhielt sich so normal, dass keiner auf den Gedanken gekommen wäre, er habe eine Ehekrise. Durch die Fensterscheibe seines Kabuffs konnte er das ganze Archiv und etwaige Besucher im Auge behalten. Außerdem ließ er die Tür meistens offen, damit er hören konnte, wenn sich Schritte näherten. Kam jemand zu ihm, um sich Akten auszuleihen oder zurückzubringen, schaute er von seinem Computer auf und lächelte beinahe mit derselben Bereitwilligkeit wie zuvor. Und tauchte einmal ein Vorgesetzter auf, schaffte er es in der Regel, die Patience vom Bildschirm zu entfernen und durch eine unfertige Archivliste zu ersetzen. Beinahe jeder im Haus wusste, dass Arvid auf sein eigenes Betreiben hin ein neues Erfassungssystem ausarbeitete, was eine große intellektuelle Anstrengung für ihn bedeutete. Im Großen und Ganzen schien also alles wie immer zu sein, und hin und wieder gelang es ihm sogar sich einzureden, dies sei tatsächlich der Fall. Alles würde sich zum Besten wenden, wenn nur seine Patience zweimal nacheinander aufginge. Dies war sowohl gestern als auch heute geschehen, wenngleich er danach feuchte Hände gehabt hatte.
Arvid hatte die drei letzten Nächte in Olas Zimmer geschlafen und damit zum Ausdruck gebracht, dass er die Situation unerträglich fand, wohingegen Vibeke sich nichts anmerken ließ. Wie konnte sie nur? Er wurde einfach nicht schlau aus ihr und aus sich selbst auch nicht. Dass er sich weitgehend mit ihren Launen abfand, musste mit seiner verzweifelten Hoffnung zusammenhängen, sie würde sich bald besinnen, Vernunft annehmen und einsehen, dass alles eine vollkommen verrückte Idee gewesen war. Sollte sich die liebe, gutmütige Vibeke plötzlich in eine Hexe verwandelt haben, die Mann und Heim im Stich ließ?
Er konnte es einfach nicht glauben.
Doch andererseits – welch verlockende Möglichkeit, Träume und Hoffnungen zu verwirklichen, tat sich ihm auf! Die phänomenale Chance, Dinge zu tun, die plötzlich »erlaubt« waren. Beispielsweise Kontakt zu Merete Stigum aufzunehmen, die in der vierten Etage am Holtermannsvegen wohnte, der schicken Büroangestellten mit den schrägen, blinzelnden Augen. Sie war zwar einige Jahre jünger als er, doch seit vier Jahren geschieden und noch zu haben. Er konnte sich immer noch an ihren bezaubernden, weichen Körper erinnern, der sich beim Tanzen auf der Weihnachtsfeier eng an seinen geschmiegt hatte. Er hatte sogar versucht sie zu küssen und sich vorgestellt, mit ihr nach Hause zu fahren. Doch sie hatte ihn freundlich weggeschoben und an seine Familie erinnert. Und das alles, während Vibeke es nach dem Weihnachtsessen der Kanzlei noch sehr viel länger getrieben haben musste, so spät, wie sie damals nach Hause gekommen war, das wurde ihm jetzt klar. Was war er bloß für ein Narr gewesen – höchste Zeit, sich auf die Hinterbeine zu stellen. Am Morgen hatte er Vibeke gefragt, ob sie ihre Drohung wahr zu machen gedenke, jetzt, da der Mann in der schwarzen Robe vom Seminar zurückgekehrt war. Darauf hatte sie geantwortet, das ginge schließlich nicht von heute auf morgen. Sie brauche ein paar Tage, um ihre Sachen zu sortieren und die Dinge einzupacken, die sie mitnehmen wolle. Doch eines würde sie ihm versprechen: Er könne ganz sicher sein, dass sie nichts mitnahm, was nicht ihr gehörte. Beinahe ihren gesamten gemeinsamen Besitz: Möbel, Kücheneinrichtung, Auto und Ähnliches würde sie ihm überlassen, abgesehen von einigen Bildern, ihren Büchern und selbstverständlich dem halben Miteigentumsanteil an der Wohnung. Ihre Stimme hatte auf Grund ihres schlechten Gewissens gebebt, und darum zweifelte er nicht an ihren Worten, als sie versicherte, dafür zu sorgen, dass er aus der Scheidung besser hervorgehen würde als sie.
Auf dem Heimweg lief er vor der Shell-Tankstelle an der Elgeseter gate zufällig Simon Tokle über den Weg, und sie wurden sich rasch einig, nach dem abendlichen Schießtraining noch in die Stadt zu gehen. Simon sagte, er müsse unbedingt ein wenig abschalten, sonst würde er noch verrückt werden, und Arvid packte die Gelegenheit beim Schopf. Dabei handelte es sich nicht nur um eine gute Tat – Simon machte eine sehr schwierige Zeit durch und verdiente etwas Aufmunterung –, sondern er würde in Simons Gesellschaft auch seine eigenen Probleme vergessen.
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