»Was erraten?« Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch sie anders aussah, als trage auch sie sich mit dem Gedanken, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen.
»Na, erraten, warum ich so spät komme.«
Er war so verdattert, dass er kein Wort herausbrachte. Was ihn in der letzten halben Stunde am wenigsten beschäftigt hatte, war Vibekes Verspätung gewesen. Nun ja, warum sollte er sie nicht zuerst erzählen lassen? Damit warten, ihr die verheißungsvolle Nachricht zu überbringen, ihnen sei womöglich ein kleines Vermögen zugefallen, ehe sie nicht irgendeine Alltagsgeschichte aus dem Büro losgeworden war? Der Schock war immer noch so frisch, dass er ihn ruhig noch ein wenig für sich behalten konnte.
Warum hatte sie eigentlich so hellrote Flecken auf den Wangen? Woher kam der eigentümliche Glanz in ihren Augen, dieser sonderbare Ausdruck, der sowohl von schlechtem Gewissen als auch kindlicher Freude zeugen konnte, so als habe sie eine spontane Romanze erlebt, die sie plötzlich jünger und lebendiger machte?
»Es tut mir so Leid, dass ich es dir nicht schon früher erzählt habe, Arvid.«
Er hörte ihre Stimme, doch die Worte erreichten ihn nicht, jedenfalls nicht am Anfang.
»Ich habe mit Preben gesprochen.«
»Oh?«
»Wir waren nach Feierabend noch kaffeetrinken.«
Preben Mack, dachte er, ihr Chef in der Anwaltskanzlei Mack & Messel. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden ein Vertrauensverhältnis hatten.
»Wir waren beide der Meinung, dass ich mit dir reden sollte ... falls du es nicht längst schon weißt.«
Langsam, sehr langsam nur kam ihm etwas zu Bewusstsein – etwas, das er eigentlich wusste, jedoch sorgfältig verdrängt und ignoriert hatte.
» Weißt du es, Arvid?«
»Was meinst du?«
»Dass Preben und ich ein Paar sind, dass wir uns entschieden haben zu ...«
Plötzlich war Arvid bei vollem Bewusstsein. Widerwillig registrierte er, dass er es war, der errötete, dass er es war, der sich für sie schämte. Seinen Zorn konnte er unterdrücken und in einen namenlosen Raum verbannen, den er mit niemandem teilen wollte. Und bevor ihm die tiefere Bedeutung ihrer Worte klar wurde – ihre drastischen Konsequenzen –, hing sie plötzlich an seinem Hals und umarmte ihn, wie sie ihn nie zuvor umarmt hatte, mit denselben Händen, die ihren Chef öfter liebkost hatten als er sich vorzustellen wagte.
»Es tut mir alles so schrecklich Leid, Arvid!«
Er hatte das Gefühl, sich vom Boden zu lösen und fortgerissen zu werden. Jetzt lehnte er sich nicht mehr an die Arbeitsplatte, er war eine Sandburg, die vom Wasser zerfressen wurde. Und während er unterging, war ihr Schluchzen nur mehr ein Tropfen in einem Meer unverständlicher Tatsachen.
»Das Komische ist, dass ich dich immer noch lieb habe. Aber so ist es nun mal«, jammerte sie.
Und so geschah es also, dass, während Vibeke Bang weinte und bereute und dennoch erleichtert war, ihrem Mann die Wahrheit gesagt zu haben, dieser nicht dazu kam, ihr zu erzählen, welch sonderbare Transaktion auf seinem Sparkonto vor sich gegangen war.
Als er erwachte, war alles wie immer. Vibeke lag neben ihm im Doppelbett und hatte ihm den Rücken zugedreht. Ein ganz normaler Samstag bei der Familie Bang in der Klostergata. Zumindest auf den ersten Blick. Er wollte als Erster aufstehen, einen Blick auf das Thermometer werfen, duschen und dann das Frühstück servieren – vielleicht. So um elf würde sie vorschlagen, in die Stadt zu gehen. Sie würden bei dem Geschäft für Heimbedarf vorbeischauen und sich die neuen Fußbodenmatten ansehen. Danach könnte sie in irgendeiner Boutique einen Frühlingsrock anprobieren und vermutlich nicht kaufen – Vibeke war von der sparsamen Sorte –, während er einen Abstecher zum Kiosk machte, eine Zeitung besorgte und seinen Totoschein abgab. Nachher schlenderten sie meist noch ins Olavsviertel und aßen im Café am Markt jeder ein Sandwich. Wenn sie Glück hatten, saß dort jemand von den alten Freunden, vielleicht sogar vom Schützenverein, Paul und Kristin Mortensen zum Beispiel. Dann fielen die Gespräche nicht schwer.
Doch schon als er seine Hand nach den dunklen Locken ausstreckte, erinnerte er sich. Zog die Hand zurück und schlich sich aus dem Bett. Das Thermometer auf der Schattenseite des Balkons zeigte sechs Grad, und die Sonne schien genauso verheißungsvoll wie am vorigen Tag. Während er duschte, zitterte er ein wenig.
Sie hatten sich nicht gestritten; er hatte ihr vielmehr stumm zugehört und ihrem wirren Redestrom gelauscht, mit dem sie ihrer Frustration Luft machen wollte. Mit einem großen Stein im Bauch hatte er gehört, wie sie sich über ihre Ehe ausließ, über die Leere, die sie empfand, über die frisch erblühte Liebe zum Anwalt Preben Mack, die zum Teil damit zusammenhing, dass Arvid ihr in den letzten Monaten zunehmend entglitten war und sie allzu oft sich selbst überlassen hatte. Nicht bewusst, so glaubte und hoffte sie, aber aus unreflektierter Gleichgültigkeit. Ja, sie nahm bereitwillig einen Teil der Verantwortung auf sich, räumte ein, auch sie sei ein Opfer des täglichen Trotts geworden, habe vergessen, die Initiative zu ergreifen und etwas zu unternehmen, was ihre Beziehung hätte beleben können. Es sei allerdings so, dass sie viel stärker unter dieser Situation leide als er, den es offenbar nicht störe, keine gemeinsamen Erlebnisse mit ihr zu haben. Hatte er sich je Gedanken gemacht, wie einsam sie sich fühlte, nachdem Ola ausgezogen war – allein mit einem Mann, der sich ausschließlich um seine eigenen Belange kümmerte?
Erst als sie ausrief: »Nicht einmal ins Kino gehen wir!«, erwiderte er: »Ist Kino denn so wichtig?«
»Nein, an sich nicht. Aber ich könnte noch so viele andere Dinge anführen.«
»Wir könnten ja morgen ins Kino gehen.«
»Es soll keine Verpflichtung sein, sondern eine Freude.«
Sie hatten natürlich schon früher über dieses Thema gesprochen – tatsächlich unzählige Male –, und immer hatte er eingesehen, wie Recht sie hatte, und sowohl sich selbst als auch ihr versprochen, alles würde besser werden. Reuevoll hatte er Blumen und Konfekt gekauft und geglaubt, damit sei alles wieder in Ordnung. Sie liebten sich doch trotz allem. Waren über zwanzig Jahre verheiratet. Warum konnten sie nicht einfach so weitermachen wie bisher?
Doch dieses Mal hatten ihn ihre Wort weitaus härter getroffen als je zuvor. Etwas Neues und Entscheidendes war plötzlich hinzugekommen: ein anderer Mann . Ein Mann, den er bislang nur als vagen Schatten wahrgenommen hatte, ein unumgängliches Möbelstück an ihrem Arbeitsplatz. Jetzt hatte sich Preben Mack plötzlich zu einem Konkurrenten entwickelt, dem er nicht gewachsen war. Ihr Chef war mehr als eine Bedrohung, er war wie ein Berg, gegen den der Chefarchivar nichts ausrichten konnte. Er stellte alles dar, was Arvid niemals erreicht und worum er sich stets vergeblich bemüht hatte. Wenn er sich gestern Abend nicht zu verteidigen versucht und es unterlassen hatte, über den blonden Angeber mit dem losen Mundwerk und den verheißungsvollen Versprechungen herzuziehen, wenn er Vibeke nicht einfach verdroschen hatte, dann nur deswegen, weil er wusste, dass sie völlig außer sich war und ein fürchterlich schlechtes Gewissen hatte. Er hatte eine ungewohnte Zärtlichkeit für sie empfunden und war drauf und dran gewesen, zu weinen. Aber nur beinahe. Der Stein in seinem Magen hatte ihm so zu schaffen gemacht und tat es immer noch, dass er mehr Mitleid mit sich selbst hatte als mit ihr.
»Ich glaube, es ist zu spät, Arvid.«
Hatte sie gesagt, als er in einem sonderbaren Augenblick der Selbsterniedrigung vor dem Sofa gekniet und seinen Kopf in ihren Schoß gelegt hatte. Da war er es gewesen, der um Verständnis gefleht hatte. Alles würde wieder gut werden, wenn sie ihm nur die Chance gab, ihr seine Liebe zu beweisen.
Читать дальше