Bereits im Treppenhaus erkannte er, dass Vibeke noch nicht zu Hause war, denn im Briefkasten befanden sich lauter Reklamezettel sowie eine Rechnung an ihn und ein an sie beide adressierter Brief von Ola. Im Laufschritt nahm er die Treppen nach oben. Im Grunde hätte er als Erstes die Kartoffeln aufsetzen sowie das fertige Fischgratin aus dem Gefrierfach nehmen und in den Ofen stellen sollen, doch an diesem Freitag hatte das Telefon Vorrang. Aus Gründen, die ihm selbst nicht richtig klar waren, wollte er die Sache regeln, bevor Vibeke auftauchte. Nachdem er sicherheitshalber die alten Totoscheine kontrolliert hatte – allesamt ohne Gewinn –, setzte er sich in den braunen Fernsehsessel, legte die betreffenden Formulare vor sich auf den Tisch, griff zum Telefon und wählte die Nummer. Es war nicht das erste Mal, dass er den Kontostand telefonisch abfragte, daher war er auch nicht überrascht, als er eine sanfte Frauenstimme hörte:
»Willkommen bei der telefonischen Kontoauskunft der Postbank. Geben Sie bitte Ihre elfstellige Kontonummer ein und drücken sie auf die Rautentaste.«
Arvid gehorchte. Sorgsam drückte er die richtigen Tasten. Er hatte gehört, dass man für die telefonische Kontoauskunft ab dem Sommer in Oslo anrufen und stattdessen sein Geburtsdatum angeben musste. Solche Verbesserungen waren es, auf die er großen Wert legte. Sicherheit ging vor.
» Geben Sie bitte Ihre Pin ein« , sagte die Frauenstimme.
Das tat er und erhielt nach einem freundlichen » Danke« die Bestätigung:
»Ihr verfügbares Guthaben beläuft sich auf zweihundert-zweiundzwanzigtausend Kronen. Aktuelle Umsätze sind möglicherweise noch nicht berücksichtigt. Wünschen Sie weitere Auskünfte, wählen sie die Eins. Falls nicht, legen Sie auf.«
Die Hand, die den Hörer hielt, zitterte eine Weile. Der erste Teil der Untersuchung war abgeschlossen. Dann drückte er die 1.
»Die letzten zehn Kontoumsätze. Bitte haben Sie ein wenig Geduld ... 19. April ’96. Abhebung. Scheckkarte. Sechstausend Kronen.«
Genau, der neunzehnte April war heute. Die Stimme nannte immer zuerst den letzten Kontovorgang. Man hatte bereits registriert, dass er vor einer Viertelstunde in der Filiale in Elgeseter gewesen war. Die vorherige Abhebung lag schon drei Wochen zurück. Er hielt die Luft an, während er der nächsten Information lauschte:
»17. April ’96. Bareinzahlung. Zweihunderttausend Kronen.«
Arvid hatte erfahren, was er erfahren wollte. Er legte den Hörer auf und begann wieder zu atmen. In der nachfolgenden Stille hörte er das Geräusch seines pumpenden Herzens. Vor nur zwei Tagen hatte ihn ein unbekannter Gönner um 200 000 Kronen reicher gemacht. Ohne Vorwarnung. Ohne jeden Hinweis.
Er trommelte mit den Fingern auf die Armlehne und versuchte eine Erklärung zu finden. Es fiel ihm schwer, zu akzeptieren, dass es sich um eine Fehlbuchung handelte, die früher oder später richtig gestellt werden würde – entweder vom Absender, der keinen Dank erhielt, oder vom Institut, das den Betrag hinterfragte. Würde die Post einen unschuldigen Dritten entschädigen, nachdem der Fehler entdeckt worden war? Wohl kaum. Konnte er das Geld abheben und an einem anderen Ort verwahren, um hinterher behaupten zu können, er habe in gutem Glauben gehandelt? Nein, das war einfach zu dreist. Doch wenn der Einzahler seinen eigenen Kontostand hatte aufbessern wollen, würde er den Irrtum erst mit dem nächsten Kontoauszug bemerken. Das konnte schon morgen der Fall sein, doch falls der oder die Betreffende das Konto nur selten kontrollierte, konnte sich dies bis zum Januar nächsten Jahres hinziehen, wenn die Jahresabschlüsse versandt wurden. Und sollte es sich um eine steinreiche Person handeln, bestand sogar die winzige Chance, dass sie das Geld niemals vermissen würde ...
Arvid erhob sich und begann auf und ab zu gehen. Vibeke brachte ihn für gewöhnlich auf den Boden der Tatsachen zurück, wenn er seiner Fantasie allzu freien Lauf ließ. Manchmal ahnte er selbst, dass seine Träumereien zuweilen absurde Formen annahmen. So wie in diesem Fall. Immer schön auf dem Teppich bleiben, sagte er sich. Es ist nicht dein Geld. Ganz und gar nicht. Er kannte keine Menschenseele, die ihm tatsächlich 200 000 Kronen schenken würde. Und dennoch. Wenn irgendjemand eine Einzahlung dieser Größenordnung veranlasste – ob auf das eigene oder ein fremdes Konto –, wurden dann nicht Namen, Adresse und Kontonummer automatisch überprüft? Selbstverständlich. Es kam also im Grunde nur ein technisches Versagen der Postbank in Frage. Ein winziger Computerfehler, die Fehlfunktion eines verborgenen Chips, die extrem selten war und niemals zurückverfolgt werden konnte. Die Postbank würde gezwungen sein, den Betreffenden zu entschädigen und die 200 000 Kronen als Verlust abzubuchen. Ein Mysterium, das dem Softwareunternehmen für immer ein Rätsel bleiben musste. Die Experten würden sich am Kopf kratzen und gegenseitig beschuldigen, während ein gewisser Arvid K. Bang aus Trondheim sich endlich das Auto zulegen konnte, von dem er schon lange geträumt hatte. Oder, was vernünftiger wäre, am Aktienmarkt investieren und Jahr für Jahr höhere Gewinne einstreichen konnte.
Die Herkunft des Geldes zu erklären, war im Grunde das kleinste Problem; er würde sagen, er habe es auf der Trabrennbahn gewonnen. Als es der Familie Mortensen letztes Jahr gelungen war, beim Pferderennen so richtig abzukassieren, hatte Paul ihm versichert, der Gewinn sei steuerfrei und das Finanzamt somit auch nicht in der Lage, die Höhe des Betrags zu kontrollieren. Pferdewetten genossen ewige Anonymität.
Doch angenommen, die Einzahlung war gar kein Fehler und sollte aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz wirklich ihm zugute kommen. Angenommen, jemand wünschte von ganzem Herzen, dass er das Geld bekam ...
Arvid hielt einen Moment inne und starrte aus dem Fenster, ohne etwas zu erkennen. Eine Frau in schwarzem Trikot joggte die Uferpromenade des Flusses entlang, blieb am Ende der Fußgängerbrücke stehen und begann sich zu dehnen. Normalerweise wäre sein Blick eine Weile bei ihr hängen geblieben, doch jetzt setzte er seine Gedankenspiele fort: In diesem Fall musste der Betreffende sich seine Kontonummer besorgt haben. Ging das so ohne Weiteres? Als er näher darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass dies kein Problem war. Als sie Ola zu seinem Geburtstag etwas auf sein Konto überweisen wollten, hatte Vibeke sofort seine Kontonummer erfahren, indem sie bei der Postbank angerufen hatte. Er begann erneut auf und ab zu marschieren, irritiert von seiner eigenen Unruhe, irritiert von den verwirrenden Gedankenspielen, die ihm aufgenötigt worden waren.
Als Vibeke ungewöhnlich spät nach Hause kam, hatte er sich immer noch nicht um die Küche gekümmert.
»Du hast sicher schon gegessen?«
Er erschrak und sah ihre schwarzen Locken im Türrahmen. Vibeke, die ein wenig kleiner war als er, sah immer noch sehr ansprechend aus, zumindest wenn sie sich geschminkt hatte und die richtigen Kleider trug. Arvid registrierte das auch heute, wenn es auch so ziemlich das Einzige war, das er auf die Schnelle wahrnahm. Anfangs war ihm nicht einmal ihr entschuldigendes Lächeln aufgefallen, und er übersah, dass ihre Haut gerötet war, als seien ihr ein paar zusätzliche Vitamine zugeführt worden.
»Warum hast du noch nicht mit dem Essen angefangen?«, fragte sie mit Nachdruck.
Er kam zu sich, beschloss, sie von der merkwürdigen Einzahlung zu informieren, und eilte in die Küche. Vibeke hatte sich den Mantel ausgezogen, stand jetzt neben dem Kühlschrank und betrachtete den Tisch, den sie heute Morgen für sie beide gedeckt hatte, bevor sie aus dem Haus gegangen war. Sie fing eine halbe Stunde später zu arbeiten an als er.
»Du guckst so komisch«, sagte sie, als sie sich zu ihm umdrehte. »Hast du etwa schon erraten ...«
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